Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
dieselbe Meinung
wie ich vom schlichten Gemüt der Tungusen, mit ihren Schamanen und Geistern und Schneemenschen.
Ich ritt zurück in den Wald, um die Nacht abzuwarten und nachzudenken. Eigentlich bin ich ja ziemlich ungestüm, am besten handle ich in der Hitze des Gefechts, und wenn ich zu viel Zeit zum Nachdenken habe, drohe ich in Trübsal zu verfallen. Aber ich hatte meine Gründe.
Ich machte ein kleines Feuer und fütterte es mit langen, dünnen Zweigen, die ich an ihrem Ende festhielt, bis sie von den Flammen fast ganz verzehrt waren. Ein trockener Wind blies und fachte die Glut an, so dass sie orangerot aufleuchtete.
In den Jahren, die vergangen waren, seit ich das erste Flugzeug gesehen hatte, war diese Maschine zu meinem Polarstern geworden. Allein von ihm zu wissen war mir ein Trost. Ich hatte seinen Rumpf mit meinen Händen berührt. Ich hatte begraben, was von seiner Crew noch übrig gewesen war. Das Flugzeug war ein Gefäß, das alles enthielt, was meiner Welt fehlte.
Doch nun, da es daran ging, die lebenden, atmenden Menschen zu treffen, die in diesen Flugzeugen saßen, hatte mich der Mut verlassen.
Natürlich, ein Teil von mir hätte alles gegeben, mehr darüber zu erfahren. Ein anderer aber sagte, es
wäre besser, umzukehren, im Wissen, dass das erste Flugzeug kein Einzelfall gewesen war. Ginge ich jetzt weiter, konnte das nur zu einer großen Enttäuschung führen.
So prächtig mir das Flugzeug auch erschien – Hoffnung war eine zu schwere Last, als dass es sie hätte tragen können.
Ich frage mich heute noch, ob in diesem Flugzeug irgendetwas hätte sein können, das all das, was ich durchgemacht hatte, wert gewesen wäre. Es fällt schwer, sich vorzustellen, was es alles hätte sein können – jetzt, da ich weiß, was es war. Das, was passiert, legt ein stählernes Gleis über all die wabernden Formen von hätte und könnte.
Ich habe das so oft durchgespielt. Ich sehe mich im Wald, wie ich Zweige auf das Feuer lege. Ich sehe das leere Flugzeug, das vor den Toren des Lagers schläft. Und dann bewege ich mich zurück, wie das Bild in einem Erinnerungsstein, reite nach Polyn, hauche Shamsudin unterwegs Leben ein, trotte mit Tolya und den Gefangenen zurück zum Lager, lasse Boathwaites Garten wieder Wildnis werden. Und weiter zurück, bis vor Pings Tod, bis vor die schlimmen Jahre, bis ich mit meinem Vater an der Beringsee stehe und zusehe, wie Tschuktschen die Innereien zurück in ein Walross packen und das Tier im Wasser aussetzen …
Und an jeder Stelle denke ich: Hier? Oder hier? Ist das der Moment, der die die Weichen für alles weitere gestellt hat?
Wie ich es auch betrachte, es läuft immer auf dasselbe hinaus: Etwas Schlimmes passiert. Die Stadt brennt. Die, die ich liebe, sterben. Das Flugzeug stürzt ab. Und ich suche nach einem weiteren.
Und als ich endlich eines finde, sitzt darin Eben Callard.
4
NATÜRLICH WAR ER älter geworden, doch aus irgendeinem Grund überraschte mich das. Und selbst, nachdem ich etwas Zeit mit ihm verbracht hatte, schien es, als würde sein Gesicht immer noch von jenem jüngeren überlagert, an das mich zu erinnern ich so viele Stunden verbracht hatte.
»Ich kannte einmal eine Makepeace«, sagte er und schnippte mit den Fingern, damit ihm jemand einen Drink eingoss. Blinde können eine herrische Art haben.
Ich log, sagte, ich käme aus einer anderen Stadt.
Er saß auf dem Stuhl hinter Boathwaites Metalltisch, trug einen dunklen Anzug aus weichem Stoff und starrte mit seinen milchigen Augen direkt durch mich hindurch. Sein Hemd war weiß und frisch gebügelt.
»Deine Stimme klingt vertraut«, sagte er. »Muss dieser Siedlerakzent sein.« Er machte nicht den Eindruck, als ob er mich erkannt hätte. »Boathwaite sprach in den höchsten Tönen von dir.«
Sechs seiner Leute waren im Raum postiert. Sie waren bewaffnet. Zwei trugen Patronengurte. Sie hatten mich nach Waffen durchsucht, als ich hereinkam.
Bei Sonnenaufgang war ich zum Tor geritten. Die Neugierde hatte schließlich jeden Gedanken an meine Sicherheit besiegt. Wenn ich auch nur einen Schimmer gehabt hätte, wer im Flugzeug gewesen war, wäre ich natürlich sofort umgekehrt und nach Hause geritten, aber ich hatte dieses Flugzeug nie mit etwas aus meiner persönlichen Vergangenheit verbunden. In meiner Vorstellung kam es aus der geordneten Welt meiner Eltern, mit einem Versprechen so klar und grün wie der Zweig im Schnabel jener Taube: Trockenes Land – hier entlang!
Der Wachposten
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