Weit im Norden - Theroux, M: Weit im Norden - Far North
erkannte mich wieder, aber ein anderer Mann, einer von Eben Callards Leuten, wie sich herausstellte, stand neben ihm Wache.
Sie riefen einen Jungen aus dem Wachhaus, der sich um mein Pferd kümmern sollte. Ich kannte ihn nicht. Er hatte Stroh im Haar, und sein Gesicht war vom Schlaf ganz verquollen.
Es tat mir leid, das Pferd gehen zu sehen. Ohne Pferd gab es keinen leichten Weg wieder hinaus, aber der Wunsch, hinter das Geheimnis des Flugzeugs zu kommen, war übermächtig.
Was ich sah, als ich das Lager betrat, verhieß allerdings nichts Gutes. Die Wache warf mir einen unbehaglichen
Blick zu, als sie das Tor aufstieß. Auf der anderen Seite des Appellplatzes hatte man ein grobschlächtiges Holzkreuz aufgestellt, an dem ein Leichnam hing. Der Wind war aufgefrischt, und mit jeder Brise blähte er ihn wie ein Segel und ließ den Querbalken knarren.
Obwohl das Gesicht schwarz und angeschwollen war, konnte ich erkennen, dass es Boathwaite war. Er hatte etliche Wunden am Körper. Durch seine Handgelenke hatte man Nägel geschlagen, und sein Bauch war von Faulgasen ganz aufgetrieben.
Der Art seines Todes nach zu urteilen, hatten wohl die Gefangenen Rache an ihm geübt. Und sie mussten das getan haben, kurz nachdem das Flugzeug gelandet war – er sah aus, als wäre er seit mindestens zwei Tagen tot.
Ich war ziemlich bestürzt. Ich bin kein großer Freund von Lynchjustiz und hatte nie etwas übrig für Menschen, die ihre eigenen Gesetze machen. Und es war nicht das, was ich von den Männern im Flugzeug erwartet hatte.
Shamsudin hatte gesagt, dass Zivilisation und Leben in Städten ein und dasselbe wären. Ich war mir da nicht so sicher. Für mich war Zivilisation Straßenbeleuchtung, Abwasserleitungen, Schulen und vernünftige Entscheidungen. Und ich kann keine Vernunft in vorsätzlicher Grausamkeit erkennen.
Aber ich musste mich darauf verlassen, dass die Leute im Flugzeug klug genug waren, um zu wissen, was sie wollten. Niemand sonst war gestorben. Die Mauern standen noch. Der Ort war nicht dem Erdboden gleichgemacht worden. Vielleicht war der Leichnam am Kreuz einfach der Preis einer neuen Ordnung.
Was im Lager auch geschehen war, ich hatte immer noch meinen alten Rang als Wache inne. Mein Zimmer war so schäbig, wie ich es verlassen hatte. Im Sonnenlicht sah der Staub auf dem Fensterbrett wie gemahlenes Gold aus.
Durch das Fenster sah ich das Lager zum Leben erwachen. Erst der Weckruf, dann die müden Gefangenen, die sich aus den Baracken schleppten. Wie abgerissen sie aussahen.
Kurz darauf kam eine der neuen Wachen und sagte, dass Mr. Callard mich nun empfangen werde, und als ich das Büro erreichte, hatte ich eine recht gute Vorstellung davon, was mich erwartete. Auf dem Weg erzählte mir die Wache, dass Callard sein Augenlicht verloren hatte, als er die Ehre einer Frau verteidigt hatte. Ich konnte nicht anders, als den Mund zu einem Lächeln zu verziehen.
Das erste Treffen war kurz. Callard wollte wissen, wo ich gewesen bin. Wie ich überlebt hatte. Ich erzählte
ihm so wenig wie möglich. Dann ließen sie mich zurück auf mein Zimmer.
Später brachte man mir Essen und frische Kleider. Und ein grobes Handtuch mit einem grünen Stück Seife darauf. Ich schrubbte mich damit im Waschraum ab und wusch mein Haar. Es war lange her, dass ich Seife gesehen hatte. In Evangeline hatten wir immer unsere eigene gemacht. Man brauchte Fett und Lauge dazu.
Isebel …
Während ich mich wusch, dachte ich darüber nach, wie ich fliehen würde. Beim ersten Licht des Tages. Mit einem neuen Pferd, nein, gleich zwei … Tränen verschleierten mir die Augen. Tränen der Enttäuschung. Ich war diejenige, die eine verstümmelte Botschaft in Händen hielt. Ich dachte, ich sei eine Bewahrerin, die sich mit dem Wenigen, das ihr geblieben war, dem Verschwinden entgegenstellte und sich mühte, sich der Werte ihrer Vorväter als würdig zu erweisen. Ich war immer so stolz gewesen, in dieser Welt zu leben. Aber ich war genau wie mein Vater. Ich brauchte eine andere Welt, um diese hier zu erlösen.
Ich habe gerade zurückgeblättert und gesehen, dass ich geschrieben habe: Ich brauche die Dinge nicht anders, als sie sind.
Kennt man das nicht, wenn der sturste und willensstärkste Junggeselle sich verliebt, sich die letzten Reste seines Haars färbt und sich dann ein gebrochenes Herz holt? Oder das abstinente Mütterchen, das die Blumen in der Kirche richtet, mit sechzig ihren ersten Sherry hebt und als Trinkerin stirbt?
Ich
Weitere Kostenlose Bücher