Weites wildes Land
flackernden Lampe gewandt. »Niemand auf der ganzen Welt. Ich könnte ebensogut tot sein.« Sie ging zum Spiegel hinüber und betrachtete ihr Spiegelbild. »Dich gibt es ja kaum«, sagte sie. »Du bist der Geist von Sibell Delahunty, die mit dem Schiff untergegangen ist, irrst immer noch durch das Land und suchst nach deinem Grab.« Allerdings sagte ihr der gesunde Menschenverstand, daß das reichlich übertrieben war. Die Wirklichkeit jedoch bot ihr keinen Trost. Im Grunde genommen hätte sie sich jetzt eine Schulter suchen müssen, an der sie sich ausweinen konnte. Aber ihre Selbstbeherrschung gestattete ihr nicht, ihre Gefühle so zu zeigen. Am nächsten Morgen war sie mit der Welt immer noch nicht im reinen, und so marschierte sie trotzig und hoch erhobenen Hauptes in den Speisesaal. Sie trat auch dann nicht den Rückzug an, als sie feststellte, daß sie die einzige Frau im Raum war. Weißgekleidete Herren folgten ihr mit den Blicken. Als der chinesische Kellner das Frühstück vor sie hinstellte, riß sie erstaunt die Augen auf. Es waren keine chinesischen Speisen und auch nicht die englischen Gerichte, die bei den Gilberts auf den Tisch kamen. Vor ihr lag ein riesiges Steak, von dem der Saft tropfte. Es war so groß, daß es über den Tellerrand hinaushing. Darauf lagen zwei Spiegeleier, und rundherum waren Berge von gebratenem und gekochtem Gemüse aufgehäuft. Dienstbeflissen kehrte der Kellner noch einmal mit einer Flasche Worcestersoße zurück. Über ihrem Kopf trieb ein Punkah langsam dahin, und ihre Blicke folgten dem glänzenden Seil bis zur gegenüberliegenden Wand, wo ein gelangweilter Eingeborenenknabe die Fahrt mit dem Schnurende lenkte, das er sich um den Zeh geknotet hatte. Sibell mußte den übermächtigen Drang unterdrücken, angesichts dieser lächerlichen Szene loszulachen. Gleich fühlte sie sich besser, so daß sie beschloß, das Frühstück in Angriff zu nehmen, falls es ihr gelingen sollte, das Steak zu zerkleinern, ohne daß ihr die Hälfte dabei aufs Tischtuch fiel. Zu ihrer Überraschung waren die Eier wunderbar durchgebraten, das Gemüse knackig, und das Steak ließ sich schneiden wie Butter. Mit einigen Stücken frischen Brotes wischte Sibell schließlich den Teller sauber und spülte die Mahlzeit mit starkem Tee hinunter. Zuerst hatte sie vorgehabt, spazieren zu gehen, doch dann erinnerte sie sich an die Warnung des Colonels, die Stadt sei gefährlich. Also blieb sie sitzen und überlegte, was sie tun sollte. Digger Jones' dröhnende Stimme ließ sie auffahren. »Hey, Miss Delahunty, man hat mir gesagt, daß die Hamilton-Jungs in der Stadt sind.« »Wo?« »Weiß ich nicht genau, aber wenn sie noch da sind, finden wir sie.« »Sie haben eine Herde Pferde hergetrieben«, rief einer der Gäste vom gegenüberliegenden Ende des Raumes. »Wahrscheinlich sind sie schon weg. Schicken Sie Ling Lee zu den Carmody-Ställen. Der Besitzer muß es wissen.« Sibell wartete in der Hotelhalle und blickte in den grauen Tag hinaus. Ein Sprühregen hielt sich wie Nebel in den Straßen. Wegen des feuchten Wetters rann das Schwitzwasser die Gipswände hinab, so daß Sibell sich fühlte wie in einer Höhle, nur daß es dazu noch unangenehm heiß war. Da kam der chinesische Diener zur Tür hereingelaufen. »Missy sehen! Missy sehen!« Er zog sie zur Tür. »Was gibt es zu sehen?« »Hamilton!« Trotz seiner chinesischen Aussprache dieses Namens konnte Sibell erraten, was er meinte, und sie blickte erwartungsvoll die Straße hinab. Drei Männer, in Regenmäntel gehüllt, die in langen, schweren Falten an ihnen herabhingen, ritten auf das Hotel zu. Ihre Gesichter wurden von breitkrempigen, tropfnassen Hüten verborgen. Sibell kamen sie wie Riesen vor, geisterhafte Gestalten auf hochbeinigen Pferden, die fast lautlos die nasse Straße entlangtrabten. »Wer sucht uns?« rief einer von ihnen, und Sibell, die sich vor ihnen fürchtete, war versucht, ins Haus zu flüchten. Der Diener antwortete an ihrer Stelle. Kichernd zeigte er auf Sibell. »Die Missy hier.« »Ich suche Mrs. Hamilton«, rief Sibell. Sie blieb auf der schützenden Veranda stehen. »Welche Mrs. Hamilton?« Verblüfft zögerte Sibell einen Augenblick. »Mrs. Charlotte Hamilton.« »Oh! Charlotte. Sie ist nicht da.« »Das weiß ich. Vielleicht können Sie mir sagen, wie ich hinaus zur Black Wattle Farm komme.« Schweigen. Dann schwang sich der Sprecher der Gruppe vom Pferd. Er war ein großer, kräftiger Mann, ganz gewiß kein Junge (hatten die
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