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Wellentraum

Wellentraum

Titel: Wellentraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Kantra
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sehen.«
    »
Wenn
wir sie sehen«, gab Maggie zurück. »Vielleicht hat sie dein Bruder mit einer Aura belegt.«
    Caleb setzte sich hinter sie, wobei das kleine Wasserfahrzeug schwankte. Wasser, dunkel von Schatten und Schlick, schwappte gegen die muschelverkrusteten Pfeiler des Kais. Eine Geruchsmischung aus Treibstoff, Fisch, Salz und Moder waberte unter dem Steg hervor. »Was ist das?«
    »Eine Aura.« Sie sprach lauter, um das tiefe Brummen des Motors zu übertönen. »Einen Bann könnte man es auch nennen. Er zwingt dich, etwas zu sehen. Oder etwas zu übersehen.«
    Er hatte noch immer Schwierigkeiten, den Bruder, an den er sich erinnerte, mit Geschichten über Meerjungfrauen und Zauberei in Zusammenhang zu bringen. »Das kann er?«
    Sie nickte. »Um Besucher fernzuhalten.«
    Der Kai fiel steuerbords zurück, als Caleb das Boot in den Hafen hinauslenkte. Er machte einen großen Bogen um einige Segelboote, die in der Dünung auf und ab tanzten. »Du hast gesagt, dass die Insel eine Art Zwischenstation ist, richtig? Wozu ist ein Rastplatz gut, wenn ihn niemand finden kann?«
    »Selkies können ihn finden. Ich kann ihn finden.«
    »Gut. Dann übernimm du die Navigation.«
    Maggie hob das Gesicht in den Wind und schüttelte ihr Haar. »Solange du nicht von mir verlangst, dass ich mich ans Steuer setze.«
    »Nie im Leben.«
    Ihre Augen verengten sich.
    Caleb lächelte vage, bis sie sich kichernd tiefer in ihren Polstersitz sinken ließ.
    »Vielleicht hast du recht«, räumte sie ein. »Ich würde sowieso lieber segeln lernen.«
    »Ich könnte es dir beibringen«, bot er an. »Falls du bleibst.« Ihre Blicke begegneten sich, und die unausgesprochene Bitte stand bang zwischen ihnen.
Bleib.
    Sie sah wieder weg, während Röte in ihre Wangen kroch. In der Ferne nahm ein einzelner Kajakfahrer Kurs auf das offene Meer. Die Paddel leuchteten im Sonnenlicht auf. »Wer hat dir das beigebracht?«
    Caleb bemerkte, dass sie das Thema wechseln wollte, und nahm den Faden auf. »Ein Boot zu steuern? Mein Vater. Ich habe in dem Sommer angefangen, mit ihm hinauszufahren – ich habe im Heck gearbeitet –, als ich zehn wurde.«
    In dem Jahr, als seine Mutter sie verließ.
    Er steuerte um die orangefarbenen, weißen, roten und gelben Leinen der Hummertonnen herum, die wahrscheinlich über einem unsichtbaren Felsen unter Wasser hüpften. Es war fünfzehn Jahre her, dass Caleb auf See gearbeitet hatte, und noch immer kannte er die Fallen der einzelnen Hummerfischer:
Tibbetts, Dalton, Spratt …
    Er wollte nicht an Bart denken. Nicht jetzt. Er wollte sich nicht daran erinnern, wie sein Vater Lucy beim Babysitter abgegeben hatte, damit sie beide mit dem Boot hinausfahren konnten. Nur sie beide. Sie sahen zu, wie die Sonne über dem Meer aufging, und spürten in der Ruhe vor der Morgendämmerung, dass dieser Tag vielleicht doch sein Versprechen einhalten würde.
    Calebs Hände packten das Steuerrad fester. Es gefiel ihm nicht, dass sich der Zweifel in ihm rührte – wie etwas Hässliches, das über den Meeresboden kroch.
    Und er hasste die Frage, die er stellen musste, die Frage, die ein Loch in seine Eingeweide gebrannt hatte, seitdem er in der Gasse hinter dem Restaurant über seinen Vater gestolpert war.
    Trotzdem fragte er.
    Das war sein Job.
    »Mein Vater – er hat es meiner Mutter sehr übelgenommen, dass sie ihn verlassen hat. Ist es möglich, dass der Dämon davon wusste? Dass er es für seine Zwecke benutzt hat? Meinen Vater benutzt hat?«
    »Dass er ihn in Besitz genommen hat, meinst du?«
    Caleb zuckte nicht zusammen. »Ja.«
    »Nein«, antwortete Maggie bestimmt.
    Caleb verharrte still. Er wagte noch nicht, es zu glauben. »Wie kannst du dir da so sicher sein?«
    »Ich wüsste es. Ich lebe mit ihm unter einem Dach, atme dieselbe Luft … Ich würde es riechen. Spüren. Caleb …« Sie legte ihm die Hand auf den Arm, bis er ihr in diese großen, braunen, tief blickenden Augen sah. »Ich wüsste es«, wiederholte sie ruhig.
    Die Anspannung wich von seinen Muskeln. Seine Hände lockerten ihren eisernen Griff um das Steuerrad. »Okay. In Ordnung. Danke.«
    Das tiefblaue Wasser durchpflügend, umrundeten sie die Felsspitze. Sie hinterließen weiß gekrönte Furchen in ihrem Kielwasser. Der Atlantik glitzerte bis zum Horizont. Die Brise verfing sich in den dunklen Flechten von Maggies Haar und presste ihre Kleidung verführerisch an ihren Leib. Sie sah wie eine exotische Galionsfigur aus, die zum Leben erwacht war,

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