Wellenzauber
stabiler als ihr eigener aussah, und Sina setzte sich vorsichtig.
»Martha Tommasini«, stellte sie sich vor und reichte Sina die Hand. »Wir sind übrigens Kolleginnen. Ich arbeite mit Dottore Federico Bergmann zusammen.«
»Oh« war alles, was Sina herausbrachte. Die Frau verwirrte sie, und sie fürchtete sich vor dem, was sie zu hören bekam.
»Nur keine Panik, meine Liebe. Ich beiße nicht. Möchten Sie einen Cappuccino?«
»Lieber etwas Stärkeres«, erwiderte Sina.
Martha lächelte und bestellte zwei Grappa.
Gleich darauf war Sina froh über den scharfen Schnaps. Denn was sie von Martha zu hören bekam, war derart unglaublich, dass sie es in ganz nüchternem Zustand kaum ertragen hätte.
»Sie müssen sich irren«, sagte sie endlich zu Martha. »Federico hat mich längst vergessen. Es sind zehn Jahre seit damals vergangen, und er hat bestimmt inzwischen …«
»Hat er nicht«, unterbrach Martha sie. »Ganz im Gegenteil. Er war kurz davor zu heiraten und hat doch noch einen Rückzieher gemacht.«
Sina musterte das Gesicht der Älteren und versuchte zu begreifen, was sie eben erfahren hatte. Demnach war Federico ein guter Arzt hier auf Sardinien geworden, privat aber war er ein Getriebener. Einer, der nie wirklich zur Ruhe kam, der nicht heimisch wurde, der von Zeit zu Zeit so eine Art Aussetzer bekam und dann minutenlang schweigend aufs Meer hinausstarrte.
Wenn Sina manchmal wie geistesabwesend in die Ferne schaute, nannte Kerstin es den »Sardinien-Blick«. Zu erfahren, dass Federico ganz ähnliche Momente erlebte, machte sie beklommen.
»Ich kenne Ihre und Federicos Geschichte auch erst seit kurzem«, sagte Martha jetzt, »Aber ich habe schon immer gewusst, dass ihn etwas schwer bedrückt.«
»Wahrscheinlich das schlechte Gewissen«, erwiderte Sina und spürte den alten Zorn wieder in sich hochsteigen. »Er kann sich denken, dass ich ihm nie verziehen habe.«
Martha sah sie eine Weile ruhig an. »Ich glaube, es ist mehr als das«, sagte sie dann.
Sinas Herz geriet plötzlich ins Stolpern. »Sie meinen …«
Martha hob die Hand. »Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Ich denke, dass müssen Sie und Federico schon allein herausfinden. Hier, das ist die Adresse von seiner Praxis. Es ist nicht weit. Sie können zu Fuß hingehen. Immer am Hafen entlang. Sehen Sie sich den Mann an, den Sie lieben. Alles Weitere wird sich zeigen.«
»Wie kommen Sie darauf, dass ich Federico liebe?«, fragte Sina zittrig zurück. »Es ist doch alles viel zu lange her. Außerdem, wenn ich überhaupt etwas für ihn empfinde, so ist es Hass.«
»Genau«, erwiderte Martha. »Liebe und Hass — wo ist da der Unterschied?« Womit sie, ohne es zu ahnen, dasselbe sagte wie Kerstin ein paar Tage zuvor.
Sina nahm mit kalten Fingern den Zettel entgegen, ging zum Taxistand, wollte die Adresse ihres Hotels angeben und schlug zu ihrem eigenen Schrecken die Tür wieder zu. Ihre Füße setzten sich ganz von selbst in Bewegung, ihre Hand zerknüllte den Zettel mit der Adresse. Via Redipuglia vent’uno. Nummer einundzwanzig. Es war wirklich nicht weit, und es war nicht schwer zu finden. Sina bahnte sich ihren Weg durch die Touristenströme. Ihr wurde schlecht von dem Geruch nach vielen fremden Parfums – oder vor Aufregung, das konnte sie nicht unterscheiden.
Ich bin verrückt, dachte sie wieder und wieder. Federico wird mich hochkant rauswerfen. Ich kann doch nicht einfach nach so langer Zeit bei ihm auftauchen …
Gerade als sie sich entschlossen hatte, umzudrehen, erreichte sie ein liebevoll restauriertes, zweistöckiges Gebäude,an dessen Eingang ein Messingschild angebracht war: »Dottore Federico Bergmann. Frauenarzt – Ginecologo.«
Auf Puddingbeinen betrat Sina die Arztpraxis im Erdgeschoss.
Bis auf eine ältere Patientin war das Wartezimmer um diese Mittagszeit leer. Es dauerte eine Weile, bis die Sprechstundenhilfe erschien, um die Frau hereinzurufen. Ihr Blick blieb an Sina hängen, und sie kehrte kurz darauf zurück.
»Sie haben keinen Termin«, sagte sie auf Englisch. »Ist es ein Notfall?«
Sina fühlte sich unsinnigerweise von der hochgewachsenen bildschönen Frau eingeschüchtert.
»Ich … möchte Dottore Bergmann nur sprechen«, gab sie auf Deutsch zurück. »Es ist … privat.«
»Verstehe.« Die Schönheit wechselte mühelos in Sinas Muttersprache über. »Nun, ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Der Doktor ist nicht da.«
»Aber die Patientin eben …«
»Dottore Bergmann wird von einem Kollegen
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