Wellenzauber
vertreten.« Damit wies sie mit herrischer Geste zum Ausgang.
Erst als sie wieder auf der Straße stand, ahnte Sina: Diese Sprechstundenhilfe hatte sie kaltblütig angelogen. Sie sah zu den Fenstern hoch. Irgendwo dort war Federico. Nach all diesen Jahren so nah. Getrennt nur durch eine Schicht altes Mauerwerk. Ein Zittern erfasste sie, und auf einmal war sie froh über den missglückten Besuch. Was wäre geschehen, wenn sie Federico eben wirklich getroffen hätte? Wäre sie ruhig geblieben, oder hätte sie ihn mit all den Vorwürfen überschüttet, die seit zehn Jahren darauf warteten, ausgesprochen zu werden? Wäre es ihr gelungen, die hohe, einst so geliebte Gestalt zu betrachten, ohne dass ihr Herz zersprang?
Und Federico – wie hätte er reagiert? Überrascht, ganzsicher. Vielleicht unsicher, vielleicht aber auch nur verärgert über die Störung und mit einer Gleichgültigkeit im Blick, die schlimmer gewesen wäre als jedes böse Wort, als jede Träne.
Sina fröstelte, als sie fortging, als sie immer schneller und schneller lief, so als müsse sie fliehen vor diesem Ort und vor den Erinnerungen, die noch immer so sehr schmerzten.
Etwas störte ihn in seiner Konzentration. Verwundert hob Federico den Kopf, während seine Patientin sich hinter dem Wandschirm wieder anzog. Er stand auf, ging zum Fenster, sah hinaus. Alles war wie immer. Eine Fähre verließ den Hafen, ein großes Kreuzfahrtschiff kündigte dröhnend seine Ankunft an. Unten auf der Straße herrschte das übliche geschäftige Treiben, nur eine junge Frau schien es besonders eilig zu haben. Für einen Moment krampfte sich sein Magen zusammen. Sina, dachte er. Aber sofort rief er sich zur Ordnung. Unzählige Male hatte er in diesen Jahren geglaubt, Sina zu erkennen, an einer zierlichen Figur, an einer Art zu gehen, an einem halben schüchternen Lächeln. Immer hatte er sich getäuscht. Federico hob den Blick und schaute auf das weite Meer hinaus, das am Horizont mit dem Himmel zusammenstieß. Er vergaß Zeit und Raum, fühlte die unerträgliche Leere in seinem Innern, während sich ein Schleier vor seine Augen legte.
»Dottore, ich wäre dann fertig.«
Er zuckte zusammen und kehrte an seinen Schreibtisch zurück. Dann füllte er ein Rezept aus, verabschiedete die Patientin, plante die Hausbesuche für den nächsten Tag. Und die ganze Zeitlang ließ ihn die Frage nicht los: Und wenn sie es doch war?Früh am nächsten Morgen ging Sina bewaffnet mit Handtuch, Sonnenmilch und einem dicken Roman zum Strand hinunter. Eine Reihe von Liegestühlen und Sonnenschirmen konnten von den Hotelgästen kostenlos genutzt werden, und Sina wählte den Schirm, der am weitesten von den anderen weg stand. In der vergangenen schlaflosen Nacht hatte sie eine Entscheidung gefällt: Ab sofort wollte sie Urlaub machen. Federico gehörte ihrer Vergangenheit an, nicht ihrer Zukunft. Mochte diese Martha erzählen, was sie wollte! Er hatte heiraten wollen? Bestimmt diese wunderschöne Sprechstundenhilfe, das spürte Sina instinktiv. Er hatte einen Rückzieher gemacht? So was kam vor. Kalte Füße kurz vor der Hochzeit. Aber beim zweiten Anlauf klappte es dann.
All dies hatte nichts mit ihr zu tun. Sina warf ihre Sachen auf den Liegestuhl, cremte sich sorgfältig ein und ging dann zum Wasser. Tief sog sie die salzige Luft ein und vergrub die Zehen im nassen Sand.
Die Sonne hatte noch nicht ihre volle Kraft entwickelt, und die meisten Urlaubsgäste schliefen noch. Es schien Sina, als habe sie die gesamte Costa Smeralda für sich. Auch weiter draußen auf dem Meer waren noch keine Yachten zu entdecken. Mit einem wohligen Seufzer watete Sina tiefer in das warme, glasklare Wasser. Sie bewegte sich vorsichtig zwischen Muscheln und kleinen Steinen hindurch, glitt dann endlich ganz hinein und schwamm mit kräftigen Zügen weit hinaus, direkt auf einen großen vorgelagerten Felsen zu. Der löchrige Kalkstein schimmerte blendend weiß, und die Möwen flogen von ihrem ersten Beutezug an diesem Morgen zurück in ihre perfekt versteckten Nester.
Eine Weile ließ Sina sich auf dem Rücken treiben. Beinahe war sie glücklich. Sie dachte an den verregnetenSommer in Deutschland, an die hektische Arbeit in der Geburtsklinik und an ihr Privatleben, das eigentlich gar keines war. Und sie gestattete sich einen kurzen Traum: ein Leben hier auf Sardinien, als selbständige Hebamme, so wie Martha Tommasini eine war. Vielleicht die Zusammenarbeit mit Federico … An diesem Punkt tauchte Sina
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