Weller
Doch dann würde mir nur noch die Anti-Gewaltgruppe bleiben, um Informationen aus Wolfgang Zorn herauszulocken.
Frau Sänger war dabei, sich und ihren Arbeitsplatz auf den Feierabend vorzubereiten, als ich die Räume der Geschäftstelle betrat. Ihr Rechner war bereits heruntergefahren, die Erde im Topf ihrer beinahe mannshohen Zimmerlinde war dunkel vor Nässe und das Fenster, das tagsüber bei jeder Witterung auf Kippe stand, war geschlossen. Sie ließ den Taschenspiegel sinken, in dem sie ihren Lippenstift überprüft hatte – immer himbeerfarben, immer herzförmig aufgetragen, immer einen Hauch zu jugendlich für die immerhin stramm aufs Rentenalter zusteuernde Geschäftsstellensekretärin – und nickte mir respektvoll zu.
»Herr Weller, für heute Abend abgesagt haben …« Sie las vom Schreibblock neben ihrem Telefon ab, wer von meinen Klienten es vorzog, dem heutigen Anti-Gewalttraining fernzubleiben: »Körner und Wesemeyer.«
Ich nickte. »Da waren es nur noch drei. Danke, Frau Sänger. Und Ihnen einen angenehmen Feierabend.« Ich ging hinüber in den Gruppenraum und begann, die im Kreis aufgestellten Stühle aufzustapeln. Heute würde ich die Jungs auf eine Fantasiereise mitnehmen, bei der sie auf dem Teppichboden liegend sich selbst in verschiedenen Situationen imaginieren sollten. Dabei stellte es für viele schon eine riesige Herausforderung dar, in Anwesenheit der anderen die ganze Zeit die Augen geschlossen zu halten – war ihr bisheriges Leben doch zumeist von Misstrauen und der Missgunst anderer bestimmt gewesen. Ein paar Minuten vor fünf trottete Mike Ziehms, der seine Freundin krankenhausreif geschlagen hatte, weil sie ihn mit einem Kollegen betrogen hatte, mit einem durch die Lippen gepressten »Tachschö« in den Raum, sah sich irritiert um und griff dann nach dem obersten Stuhl im Stapel.
»Moin, Mike. Ne, lass mal.« Ich deutete auf den Stuhl. »Wir machen heute ein Experiment.«
Im Blick, den er mir zuwarf, spiegelte sich ein Hauch von Interesse.
»Oookaaayyy.« Er zuckte mit den Schultern und stellte sich, wie ich, an die Fensterfront, die auf den großen Sandplatz zeigte, auf dem dutzende von Autos parkten. Im Hintergrund reckten die Hafenkräne ihre Ausleger in den wolkenschweren Himmel. Wir warteten schweigend. Sechs Minuten nach fünf kam Mathias Rüting, notorischer Schläger mit rechtsextremem Hintergrund in den Raum, stutzte ebenso wie sein Vorgänger und ich begann, obwohl der Dritte – Wolfgang Zorn – fehlte, mit der Erklärung dessen, was ich heute mit ihnen vorhatte.
»Stellt euch vor, ihr könnt in jedem Moment eures Lebens an jeden Ort der Welt reisen, ganz ohne Anstrengung. Wie wäre das für euch?«
»Das könnte praktisch sein.« Mathias grinste. »Wenn man mal schnell abhauen muss.«
»Ich wollte schon immer nach Amerika. Mit ’nem Motorrad über die Route 66 und so.« Mike drehte mit der Rechten am Gasgriff eines imaginären Motorrades.
»Ja, das trifft schon eher das, was ich euch heute anbieten will.« Ich blickte auf meine Uhr, befand, dass wir nicht weiter auf Zorn warten würden, und stimmte die beiden Jungs darauf ein, sich auf den Teppichboden zu legen, die Augen zu schließen und einfach nur meiner Stimme zu folgen, die sie an verschiedene Orte, in verschiedene Situationen bringen würde.
Zorn erschien auch später nicht und als ich ihn am nächsten Morgen anzurufen versuchte, nahm niemand ab. Mit einem kaum spürbaren Gefühl der Erleichterung, das mich selbst irritierte, setzte ich das Standardschreiben bei unentschuldigtem Fernbleiben von Klienten auf. Textbaustein um Textbaustein fügte ich zu einem unpersönlichen Brief zusammen, der ihm androhte, dass ich den für ihn zuständigen Richter über seinen Verstoß gegen die Auflagen des Gerichts informieren würde, falls er sich nicht in den nächsten fünf Arbeitstagen bei mir meldete. Ich klebte den Briefumschlag zu und brachte ihn hinüber zu Frau Sängers Postausgangskorb.
»Ach, Herr Weller, übrigens …«
Frau Sänger hatte die Angewohnheit, solche Halbsätze in der Luft stehen zu lassen, in der Hoffnung, man möge sie durch Nachfragen aus ihrem Plauderstau erlösen. Ich tat ihr den Gefallen.
»Was gibt’s, Frau Sänger. Alles im Lot in Dammhusen?«
Sie rückte ihre Lesebrille, die an einem goldenen Kettchen baumelte, auf ihrem Busen zurecht und dann folgte eine Aufzählung aller Unbill, die Familie Sänger aktuell plagte. Helmut, ihr Mann, hatte sich beim Bau eines Geheges für das
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