Weller
hatte. Wieso hatte ich nicht früher daran gedacht? War der Spannerfotograf möglicherweise Fernfahrer?
***
»Wolfgang, mach auf. Ich weiß, dass du da bist.« Ich pokerte. Die Klingel hatte Zorn schon vor langer Zeit abgestellt. Mein Klopfen verhallte. Es klang, als liefe drinnen der Fernseher. Doch das konnte auch aus einer der beiden anderen Wohnungen auf dieser Etage kommen. Durch das Treppenhausfenster meinte ich das vielstimmige mutwillige Murren der Montagsmeute zu hören, die sich wieder vor dem Haus zusammengerottet hatte, um den Friedenshof von Wolfgang Zorn und Wismar von gesundem Menschenverstand und Mitmenschlichkeit zu befreien. Ich war ebenso wütend auf diese menschlichen Nieten dort draußen wie auf meinen Klienten, der sich auch nach meiner schriftlichen Aufforderung nicht bei mir hatte blicken lassen. Seine Suchtberaterin, die Zorn gleich zu Beginn der Betreuung mir gegenüber von der Schweigepflicht entbunden hatte, vermisste ihn ebenfalls seit drei Wochen, wie ich herausgefunden hatte. Vielleicht war er ja wie angekündigt fortgezogen, untergetaucht – mit diesem Gedanken meldete sich auch diesmal sogleich der schwer zu unterdrückende, unangenehm egoistische Teil von mir.
»Wolfgang, mach auf.« Drinnen meinte ich, ein Poltern zu hören. Jetzt bollerte ich gegen die mit Naziaufklebern gepflasterte Wohnungstür. »Wolfgang …« Ich erschrak, als die Tür unter meinen Schlägen einen Spalt nachgab. Ich drückte sie weiter auf, irgendetwas klemmte, dann rumpelte es laut. Der Flur lag im Halbdunkel. Es roch wie in einer Gruft: abgestanden, dumpf, beinahe modrig. Der Fernseher war tatsächlich eingeschaltet. Die grelle Stimme einer Moderatorin und aufbrandender Applaus drangen an mein Ohr. Ich schlüpfte hinein und sah den mannshohen, metallenen Schuhschrank mit offenen Klappen schräg zwischen Tür und Wand lehnen. Schuhe und Putzzeug lagen wild verstreut auf dem abgeschabten Teppichboden. Ich richtete den umgekippten Schrank wieder auf, drückte die Wohnungstür ins Schloss und stieg über das Schuhchaos hinweg. Die winzige holzverkleidete Küche rechter Hand war leer. Im Wohnzimmer flackerte der Fernseher im Dämmer der heruntergelassenen Rollos. Hier herrschte eine Unordnung, wie ich sie nicht erwartet hatte und nur aus den Wohnungen von Drogenabhängigen kannte. Überall standen und lagen leere Flaschen, übervolle Aschenbecher sowie Teller und Gläser, die als solche missbraucht worden waren. Dazwischen flache Pappkartons mit vertrockneten Pizzaresten, Styroporschachteln, in denen ketchupverschmierte Fastfoodreste schimmelten, leere Tabakverpackungen, zerknüllte Zeitungen und Lottoscheine, zerfledderte Zeitschriften und Sudokuhefte, Einwegfeuerzeuge und Chipstüten. Im Topf der in völlig vertrockneter Erde steckenden Zimmerpalme hatte ein zersplitterter Plastikbecher seinen Inhalt – Vanillepudding – ausgespien. Passend dazu lag auf der Couch der Wohnungsinhaber in seinem Erbrochenen.
Ich rüttelte vorsichtig an Zorns Schulter, rief seinen Namen, einmal, zweimal.
»Was willssu?« Endlich öffnete er seine Augen immerhin halb, die Pupillen blieben nach oben verdreht. »Wa…« Speichel lief ihm aus dem Mundwinkel, sein Kopf kippte nach hinten. Ich hielt die Luft an, so stark stank er. Seine Augen blieben halb geschlossen, er schien nicht wirklich bei Bewusstsein zu sein.
»Wolfgang, ich drehe dich jetzt auf die Seite. Ist das okay?« Keine Reaktion. Also zog und zerrte ich mit angehaltenem Atem an ihm herum, bis ich so etwas Ähnliches wie eine stabile Seitenlage zustande gebracht hatte. Er atmete schnappend, mit langen Pausen, sein Puls war kaum zu fühlen. Also telefonierte ich, ohne langes Nachdenken, den Rettungsdienst herbei. In diesem Zustand nahe der Bewusstlosigkeit konnte ich ihn nicht allein hier liegen lassen. Während ich auf die Sanitäter wartete, setzte ich mich auf einen der beiden Sessel, versuchte mich zu beruhigen. Neben mir lag der bewegungslose Zorn und röchelte von Zeit zu Zeit. Ich war aufgewühlt. Dies war die Gelegenheit, meinen Verdacht zu überprüfen. Mit zitternder Hand schob ich seine Hosenbeine in die Höhe und prallte zurück.
Von den Schienbeinen bis zu den Waden zogen sich blassblaue Ornamente großflächiger, anscheinend schon älterer Tätowierungen. Ich erkannte eine Meerjungfrau mit grün-blauem schuppigen Schwanz, die ein großes, blassrotes Herz in ihren Händen trug, einen Sensenmann in Mönchskutte, die Zähne im kahlen Schädel gebleckt,
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