Weller
die skurrilen Geschichten, die wir hören würden, die Texte, die – mal unterhaltsam mal anstrengend intellektuell – doch fast immer originell waren. So würde ich meine Sorgen für zwei Stunden hinter mir lassen können. Ich drückte Ellens Hand und sie lächelte mich an. Möglicherweise versprach sie sich genau das Gleiche vom heutigen Abend.
»Und nun freue ich mich ganz besonders, Ihnen – als heutigen Bühnengast – Enrico Westphal vorzustellen.« Nach fünf kurzen Gedichten, einem experimentellen, heillos lautmalerischen Text und einer Kurzgeschichte um ein zu spät entdecktes Autokennzeichen reagierte das Publikum nun mit freundlichem Applaus. Der gedrungene Kerl mit der Lederweste war Ellen und mir schon längst aufgefallen, weil er so gar nicht in das gewohnte Lesebühnenpublikum zu passen schien. Noch dazu wurde er von einem kleinen Pulk ketterauchender Frauen und Männer begleitet, die ich aufgrund ihres Äußeren und des etwas verdrucksten Auftretens eher in meiner Sprechstunde als in dieser Kunstgalerie erwartet hätte.
»Enrico ist heute bei uns zu Gast, da er das, was heute Thema des Abends ist – die Autobahn – vermutlich besser kennt, als alle Anwesenden zusammen. Denn er ist Trucker.« Der so Vorgestellte rutschte mit verlegenem Grinsen auf seinem Stuhl herum und knetete seine fülligen Fäuste.
»Und nicht nur das. Er kennt nicht nur alle Autobahnen Nordeuropas und noch ein paar mehr, sondern hat auch ein besonderes Hobby, das eine weitere Brücke zu unserer Veranstaltung schlägt.« Die Krimiautorin sah den Trucker an, nickte aufmunternd. Enrico tat einen tiefen Atemzug und schmetterte: »Ich schreibe Science-Fiction-Geschichten. Zusammen mit meinem Freund Manni – der sitzt da hinten.« Er deutete in die letzte Reihe. »Manni kann fantastisch gut zeichnen, der macht die Bilder zu den Geschichten. Ich habe da etwas vorbereitet.« Die Krimiautorin überließ ihm die Bühne, dafür kam Manni mit einem Laptop nach vorne und schloss ihn an den bereits auf der Bühne stehenden Beamer an. Das Publikum war mucksmäuschenstill. Multimedia war neu auf der Lesebühne. Und dazu jemand, der so wenig dem gängigen Bild eines Literaten entsprach wie dieser Enrico. Manni hatte leichte Schwierigkeiten, den Laptop mit dem Beamer zu synchronisieren und Enrico erwies sich in der Zwischenzeit als wahrer Dampfplauderer.
Auch wenn sich der eine oder andere im Publikum fragen mochte, ob wir in eine Sendung von Vorsicht Kamera geraten waren, blieben doch alle freundlich interessiert und ließen sich von Enrico in seiner weitschweifigen, aber charmanten Art berichten, wie er auf seinen tagelangen Touren über Bundesstraßen und Autobahnen oftmals über Verschiedenstes nachdachte und so die Ideen zu seinen Geschichten entwickelt hatte. Endlich spurte die Technik und die auf die Wand projizierten Illustrationen zeigten, dass er in Manni einen kongenialen Partner gefunden hatte, dessen ausufernde, in ihrer düsteren Detailversessenheit faszinierenden Zeichnungen bestens mit dem barocken Duktus von Enricos Geschichten um fremde Welten in der hochtechnisierten Zukunft des Universums harmonierten. Enrico stellte uns den Inhalt der ersten Kapitel seines Werkes mit größter Akribie und – überraschenderweise – einem rührend tollpatschigen Humor vor, der den Geschichten allerdings ebenso abging wie eine größere literarische Qualität. Ich bewunderte ihn für seinen Mut. Doch die um uns herum Sitzenden schienen alle an Enricos Lippen zu kleben. Keiner hustete oder flüsterte mit dem Nachbarn, niemand stand auf, um sein Glas neu füllen zu lassen.
Ich beobachtete, wie er da auf der Bühne kasperte, zur Illustration jeder vorgelesenen Szene ein klein wenig zu stark in den verschiedenen Rollen gestikulierte und grimassierte, dafür immer wieder begeisterten Applaus kassierte und daraufhin übermütig versprach, bald den zweiten Band seiner Fremde-Welten-Geschichten an dieser Stelle vorzustellen. Der Saxofonist, der heute den musikalischen Part der Lesebühne übernommen hatte, setzte mit einer seiner verschrobenen Jazzimprovisationen ein, konnte mich jedoch nicht von dem ablenken, was mir, kurz bevor Enrico die Bühne verlassen hatte, wie der Stich einer Hornisse ins Bewusstsein gefahren war. Der schreibende Trucker trug an den Füßen schwarze Holzclogs! Natürlich, jetzt fiel es mir wieder ein, das waren traditionell Fernfahrerschuhe. Genau solche, die auch der Mann auf dem Überwachungsvideo getragen
Weitere Kostenlose Bücher