Weller
Kaninchen von Enkel Leon an der Hand verletzt, die Wunde hatte sich entzündet und nun konnte der Gute nicht einmal mehr allein Auto fahren, da die Hand in einem riesigen Verband ruhte und geschont werden musste. Und Kathrin – das war ihre gemeinsame Tochter – hatte, nach längerer Suche, endlich eine Arbeit gefunden. Allerdings in Rostock. »Deshalb muss ich heute auch zeitig los, denn jetzt muss ich Leon vom Kindergarten abholen.« Sie sah verständnisheischend zu mir auf. »Geht das in Ordnung?« Immerhin war ich ihr Vorgesetzter. Zwar hatte ich ihr sofort, als ich die Leitung der Wismarer Bewährungshilfe übernommen hatte, Gleitzeitarbeit ermöglicht, aber trotzdem fragte sie mich jedes Mal, wenn sie ihre gewohnte Arbeitszeit verändern wollte. Ganz so, als traue sie der Freiheit nicht, die ich ihr ließ. Hatte mich dies zu Anfang noch bekümmert und mich zweifeln lassen, ob ich etwas falsch gemacht hatte, wunderte ich mich längst nicht mehr über ihr Verhalten. Sie hatte es einfach nie gelernt, war es nicht gewohnt, selbständig ihre Arbeitszeit zu organisieren. Und dies würde sie, so kurz vor der Berentung, vermutlich auch nicht mehr nachholen, sodass ich mich mit ihrem ständigen Rückversichern abgefunden hatte.
»Aber klar. Und grüßen Sie Ihren Helmut von mir. Ich wünsche ihm gute Besserung.«
Die nächsten Tage vergingen im Alltagstrott, im Meer der Klienten, Aktennotizen, Telefonate, Gespräche, Briefe und E-Mails. Abends dann der Versuch, auszuspannen, mit oder ohne Ellen, mit Fernseher oder Buch, vorher das Überprüfen, was die Kameras aufgezeichnet hatten, und, als Letztes bevor ich in schwere, von wiederholtem Aufwachen unterbrochene Träume hinabglitt, mein spätabendlicher Kontrollgang rund um das Haus. Immerhin widerstand ich inzwischen dem Impuls, nach der Arbeit im Drogeriemarkt vorbeizuschauen. Ich verspürte keine Lust, den Verkäuferinnen gegenüber wie der letzte Depp dazustehen.
Von Zorn hörte ich nichts, versuchte auch nicht mehr, ihn anzurufen. Jetzt war er am Zug. Ich ertappte mich bei der aufkeimenden Hoffnung, er wäre geflohen, hätte Wismar hinter sich gelassen und wäre untergetaucht. Dies erschien mir in manchen Momenten wie die Lösung für meine Probleme. Ich wäre einen Klienten los, mit dem ich nicht mehr unvoreingenommen arbeiten konnte, die Polizei würde ihn in kürzester Frist irgendwo aufgreifen und – wegen Verstoßes gegen seine Führungsaufsicht – sofort wieder hinter Gittern bringen. Dann würde unweigerlich eine neue Verurteilung von bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe wegen dieses Verstoßes folgen. Und wenn Zorn während seiner Flucht eine erneute Straftat begehen würde, was alles andere als unwahrscheinlich war, würde der Richter in seinem Urteil nicht noch einmal den Fehler ›Führungsaufsicht‹ machen, sondern verkünden: Im Anschluss an die Verbüßung der Haft: Sicherungsverwahrung mit Prüfung. Damit wäre Zorns Schicksal hinter Gittern besiegelt. Er würde erst als alter Mann die Freiheit wiedersehen – wenn überhaupt.
Vielleicht würden sie ihm auch bald nachweisen, dass er der Spannerfotograf war oder, noch besser, dass er den Mord an der Studentin begangen hatte. Dann könnte ich endlich wieder ruhig schlafen, müsste mir nicht ständig Gedanken über Ellens Sicherheit machen. Im selben Atemzug ekelte ich mich vor mir selbst. Wie konnte ich Zorn dies wünschen. Ich mutierte vom libertären Freigeist zum engstirnigen Paragrafenreiter.
Am Sonntag blieb ich dem Bouleplatz am Alten Hafen fern. Zwar war es unwahrscheinlich, dass Zorn dort auftauchte, doch hatte ja Aristoteles schon vor mehr als 2000 Jahren konstatiert, dass es wahrscheinlich ist, dass das Unwahrscheinliche geschieht. Am Abend fuhren Ellen und ich in die Galerie von Kris, wo sich, wie an jedem ersten Sonntag des Monats, eine Schar von Literaturinteressierten einfand, um dem Programm der Lesebühne zu folgen. Die drei Lesebühnenauto-ren – ein verhuschter Endzwanziger mit thomasbernhardtschem Biss, eine angegraute literarisch Unentschiedene mit Hang zu suhrkampschen Elaboraten und eine hyperaktive Krimiautorin, die den Laden schmiss. Sie begrüßte das Publikum, führte durch den Abend und interviewte die Gäste, die jeweils passend zum Thema des Abends eingeladen wurden. Dieses hieß an jenem Sonntag Auf der Autobahn .
Wir kauften Kris zwei Gläser Wein ab, suchten uns freie Stühle und nickten in die Runde. Das Stammpublikum kannte sich. Ich freute mich auf
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