Weller
gesät.
Im Vorbeigehen nickte ich der alten Gudrun zu, einer langjährigen Klientin im Rentenalter, die auf einer Bank gegenüber des Einkaufsmarktes saß. Sie nahm mich nicht wahr, träumte womöglich in ihrem Alkoholdusel von anderen Orten und besseren Zeiten und ich hoffte für sie ebenso wie für mich, dass die angebrochene Flasche Schnaps, die sie mit einer Hand umklammert hielt, auf ehrlichem Wege in ihren Besitz gekommen war. Dies allerdings war wirklich unwahrscheinlich, immerhin hatten wir schon das letzte Monatsdrittel erreicht.
Ich schob mein Rad weiter, stieg am Ende der Altwismarstraße wieder auf und rollte die letzte Strecke über die Bauhofstraße hinweg auf das schmucklose, außen wie innen renovierungsbedürftige Polizeigebäude zu. Vor dem Eingang in der Rostocker Straße schloss ich das Fahrrad an einen Mast und meldete mich drinnen beim Wachhabenden. Der grinste mich durch die dicke Glasscheibe an, die ihn vor schlechten Gerüchen, Handgreiflichkeiten und ansteckenden Krankheiten schützte, und telefonierte Luckow herbei, damit der mich aus der Besucherschleuse abholte und über lange fensterlose Flure in eins der winzigen Mehrzweckbüros lotste. Immer wenn ich dieses marode Gebäude betrat, freute ich mich über meinen, wahrlich nicht luxuriös eingerichteten Arbeitsplatz in der Ulmenstraße. Unser altes viergeschossiges Bürohaus war von außen zwar ähnlich hässlich wie dieses, doch war unsere Dienststelle zumindest von den Räumlichkeiten und dem Mobiliar her ansprechender. Dafür hatten meine Kollegen und ich gesorgt. Und nun hatten wir sogar neue elektrische Leitungen, sodass nicht mehr ständig die Sicherungen herausflogen, wenn zeitgleich Kaffeemaschine, Computer und Staubsauger eingeschaltet wurden! Die Wismarer Polizisten hatten ganz offenbar weniger Mitsprachemöglichkeiten bei der Gestaltung ihrer Arbeitsplätze.
»Tag, Herr Weller.« Luckow bot mir einen der beiden Besucherstühle an. »Ich möchte mich noch einmal mit Ihnen über Ihren Klienten unterhalten.« Er schlug einen der obligatorischen roten Aktendeckel mit dem Aufdruck ›Landespolizei Mecklenburg-Vorpommern‹ auf, der vor ihm auf der bratwurstbeigen Schreibtischplatte lag. »Im Mordfall Marlen Hausmann ermitteln wir nach wie vor gegen Wolfgang Zorn. Doch bisher ist die Beweislage zu dünn, um ihn tatsächlich zu überführen. Sie kennen ihn ja schon ein wenig länger. Möglicherweise ergibt sich mit Ihrer Unterstützung eine Chance, unseren Verdacht zu erhärten. Oder Zorn zu entlasten – je nachdem.« Er schien sich nicht sicher, wie groß meine Loyalität als Bewährungs helfer war. Möglicherweise würde ich Zorn in Schutz nehmen. Damit hatte er im Prinzip Recht. Nur war ich gerade diesem Klienten gegenüber inzwischen selbst so misstrauisch, dass ich weit entfernt davon war, um ihn wie ein Löwe um sein Junges zu kämpfen.
»Ich fasse zusammen, was wir bisher wissen.« Luckow drehte, während er sprach, unablässig seinen Kugelschreiber zwischen den Fingern und richtete seine Worte an einen Punkt ungefähr dreißig Zentimeter neben mir. »Zorn kannte die Tote, hat dies solange verschwiegen, bis wir ihn mit entsprechenden Ermittlungsergebnissen konfrontiert haben, er hat kein Alibi und er ist Gewalttäter mit verminderter Steuerungsfähigkeit. Außerdem fotografiert er und kommt damit auch als Urheber der voyeuristischen Frauenfotos auf dieser CD-ROM in Frage. Wobei noch unklar ist, ob diese überhaupt etwas mit dem Mord an der Studentin zu tun hat. Auch da ermitteln wir noch. Und …« Karsten Luckow hob den Zeigefinger wie ein Oberlehrer, was ihn mir unsympathisch machte. »Zorn ist Marlen Hausmann, an deren Fotokursus er teilnahm, mehreren Zeugenaussagen zufolge penetrant nachgestiegen.« Er sah mich triumphierend an, als ich erschrocken zusammenzuckte.
»Sie wissen ja, wie so etwas vor sich geht: nach dem Kurs dableiben, sie um Treffen außerhalb der Kurszeit bitten, ihr schwärmerische Briefe schreiben – einige von denen haben wir bei der Hausmann in der Wohnung gefunden – und das alles, obwohl sie ihm, Zeugenaussagen zufolge, wohl recht deutlich zu verstehen gegeben hat, dass sie sich nichts aus ihm macht. Armer Hund! Frauen können so grausam sein.« Ich warf ihm einen erstaunten Blick zu. Meinte er das ironisch? Doch er starrte nachdenklich, ja beinahe wehmütig auf den Stift in seiner Hand. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er ähnlich desaströse Erfahrungen mit Frauen gemacht hätte wie
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