Weller
Hausmann festgenommen. Am Freitagabend hat die Kriminalpolizei den Wismarer Berufskraftfahrer Lukas Q., 43, verhaftet. Gegen ihn besteht der dringende Tatverdacht, die Studentin Marlen Hausmann im April in ihrer Wismarer Wohnung auf bestialische Weise getötet zu haben.« Frau Sänger holte Luft und nahm die Brille ab, um uns streng anzusehen. »Meine Güte, der Lukas doch nicht. Der arme Kerl.«
Oft uferten unsere kollegialen Frühstücksrunden in Fallbesprechungen aus, manches Mal auch in moraltheoretische Diskurse. Heute erwies sich ungewöhnlicherweise Frau Sänger als einfühlsame Parteigängerin eines von der Gesellschaft Abgehängten, vom Schicksal hart Gebeutelten: dem vermeintlichen Säuremörder.
»Der Lukas – und kein anderer kann gemeint sein, es stimmt alles: der Name, das Alter, der Beruf. Also: Lukas Quandt, das ist der Schwager von meiner Nichte Tanja. Dem hat das Schicksal ganz übel mitgespielt.« Frau Sänger vergewisserte sich mit strengem Blick, dass wir ihren Ausführungen folgten und nestelte an der Kette, an der ihre Lesebrille über ihrer beachtlichen, doch stets keusch verhüllten Oberweite baumelte. »Der hatte doch damals diesen furchtbaren Unfall.« Sie blickt in die Runde, doch weder ich noch einer der Kollegen reagierte wissend. Also holte sie aus: »Eine ganz üble Geschichte war das.«
Ich sah auf meine Uhr. Zum Glück erwartete ich den nächsten Klienten erst in einer halben Stunde.
»Das muss jetzt fast zehn Jahre her sein. Der Lukas fuhr seinerzeit für einen der hiesigen Baustoffhändler. Und eines Tages kommt es zu einem tragischen Unfall. Ein Ehepaar, beide über siebzig und wie sich später herausstellt, war die Frau unheilbar krebskrank, wirft sich Hand in Hand hier in der Dr. Leber-Straße vor Lukas’ LKW. Der konnte gar nichts machen, so schnell ging das. Die Frau war sofort tot; der Mann überlebte den Weg zum Krankenhaus nicht mehr. Und Lukas, der wurde seines Lebens nicht mehr froh, ist daran zerbrochen. Erst der Schock, die übermächtigen Schuldgefühle, dann ermittelt die Polizei noch wegen Totschlags gegen ihn.« Frau Sänger machte eine dramaturgische Pause und schenkte sich Kaffee nach.
Mir kam der Gedanke, wie viele Menschen zu Unrecht angeklagt, ja in manchen Fällen tatsächlich vom Gericht verurteilt wurden und daran zerbrachen. Ich selbst hatte vor einiger Zeit einen solchen Klienten betreut: einen nicht geständigen, als Vatermörder Verurteilten, der seine Haftstrafe verbüßt und danach alles daran gesetzt hatte, sich selbst und andere unglücklich zu machen. Einfach, weil er nichts mehr besessen hatte, nichts als seinen Hass und seine unüberwindbare innere Isolation. Ich hatte mit ihm gelitten und ihm nicht wirklich helfen können. Er war dann weggezogen, lebte nun, soweit ich es wusste, in Hamburg. Frau Sängers Stimme holte mich in die Gegenwart zurück.
»Das zog sich alles furchtbar lang hin, die Ermittlungen, der Prozess vor Gericht. Lukas hat das schrecklich mitgenommen. Er war monatelang krankgeschrieben, hing psychisch völlig durch, Depressionen und so – auch weil sich in der Zeit seine Freundin von ihm trennte und die gemeinsame kleine Tochter mitnahm. Darüber kam er nicht hinweg. Dann kam der Freispruch, aber Lukas hatte einen Knacks weg. Er verlor seinen Job, war dann eine Weile in der Psychiatrie und später in ambulanter Therapie. Ich habe lange nichts mehr von ihm gehört; mit unserer Familie hat er keinen Kontakt mehr. Aber ich weiß, dass er wieder LKW fährt. Hat sich wohl irgendwann gefangen. Aber ob er nun diese zweite Beschuldigung aushält? Das ist bestimmt ein erneutes …« Sie suchte nach dem richtigen Fachbegriff.
»Trauma«, bot ihr Bernd an.
»Ja, genau. Denn der ist doch kein Mörder. Der ist so ein Sensibelchen, der bremst seinen LKW sogar, wenn ein Igel über die Straße läuft.«
Das Telefon unterbrach unsere Runde. Frau Sänger sprang an ihren Schreibtisch und nahm das Gespräch an.
»Shit happens«, kommentierte Gerlinde, gewohnt kaltschnäuzig, derweil das eben Gehörte. Ihre Art, sich vor einem Übermaß an Empathie zu schützen.
»Ich erinnere mich dunkel an den Fall«, meinte Bernd, der fast sein ganzes Leben in Wismar verbracht hatte. »Am Ende wurde er aus Mangel an Beweisen frei gesprochen. Nicht sehr befriedigend. Zwar hatten die beiden Alten vor ihrem Hausarzt von ihrer Absicht zum Freitod gesprochen. Doch es fand sich kein Abschiedsbrief.«
»Eine schreckliche Geschichte.« Annika schüttelte
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