Weller
Jackentasche. Es glitschte mir zwischen den Fingern, als ich verzweifelt nach der noch nie benutzten Fotofunktion suchte. Aus dem Augenwinkel behielt ich den Mann im Visier. Der streckte sich, ging dann zum Heck seines Sattelzuges und verschwand aus meinem Blickfeld. Ich steppte mich durch das Menü meines Telefons, fand endlich die integrierte Kamera. Da tauchte er vor seinem Fahrzeug wieder auf, blieb neben der offenen Tür stehen und schaute sich um. Vermutlich prüfte er, ob irgendwelche ihm bekannten Kollegen hier pausierten. Mein BMW stand ungefähr drei Wagenlängen hinter ihm; ich hoffte, dass mein Telefon über diese Distanz verwertbare Aufnahmen machen würde, hielt es dicht hinter die Frontscheibe und drückte mehrmals auf den Auslöser. Was war ich nur für ein lausiger Amateurdetektiv! Nicht einmal an einen anständigen Fotoapparat hatte ich gedacht. Der Trucker stellte sich auf das Trittbrett, beugte sich in die Kabine und tauchte mit einer Getränkedose in der Hand wieder auf. So bekam ich ihn auch von hinten aufs Bild – mitsamt seinen Tattoos. Sie wirkten genauso wie die auf dem Überwachungsvideo. Das konnte kein Zufall sein. Ich schwitzte vor Aufregung, als ich auch sein Fahrzeugkennzeichen aufnahm. Er nahm einen langen Zug aus seiner Dose und sah dabei fortgesetzt in meine Richtung. Doch die Sonne stand in so schrägem Winkel, dass ich hoffen konnte, vor seinen Blicken verborgen zu bleiben. Da hob er die Hand zu einem Gruß. Ich zuckte ertappt zusammen, bemerkte dann aber, wie von links ein Rothaariger in Lederweste heranschlenderte, der anscheinend gemeint war. Es war einer der Fahrer, die ich vorhin erfolglos befragt hatte. Ich biss mir auf die Unterlippe. Nun würde er dem anderen mit Sicherheit von meinen Nachforschungen berichten, meine Tarnung – welche eigentlich, die Sonnenblende? – zerstören. Ich warf das Handy auf den Beifahrersitz und drehte den Zündschlüssel. Die Fotos mussten genügen, um Luckow zu informieren. Über die Spedition ließe sich die Identität des Fahrers leicht in Erfahrung bringen. Während ich zurücksetzte, sah ich, wie die beiden Männer miteinander sprachen und der Rote mit ausgestrecktem Zeigefinger auf mich deutete. Ich bog rückwärts auf die Fahrspur und legte den ersten Gang ein. Aus dem Augenwinkel erhaschte ich einen letzten Blick auf die beiden Trucker, die mit wedelnden Armen auf mich zu liefen. Dann gab ich Gas und entfernte mich mit quietschenden Reifen.
Erst als ich die Wismarer Abfahrt nahm, fiel mir ein, aus welchem Grund die beiden möglicherweise so eigenartig gestikuliert hatten. Mein Abendessen war bei meiner Flucht – zumindest für die ersten Augenblicke – auf dem Autodach geblieben.
***
Er hatte bis in die frühen Morgenstunden gearbeitet. Nun stahl sich bereits ein heller Streifen Licht in den Raum, der nur von einer kargen Lampe erhellt wurde. Er räumte auf, ging hinaus ins andere Zimmer und schaute eine Weile lang aus dem Fenster, hinunter auf den leeren Schlossplatz. Obwohl er todmüde war, kaum die brennenden Augen offen halten konnte, war ihm klar, dass er nicht zu Bett gehen würde.
Die Arbeit an den Bildern hatte seinen Geist nicht beruhigt, sondern diesen ruhelosen, überdrehten Zustand, in dem er sich befand, seit er es der nutzlosen Schlampe gezeigt hatte, nur überdeckt.
Als er nun draußen im Park des Schlosses, an seinem Lieblingsplatz unter den tief hängenden Ästen des Walnussbaumes saß, die eine Art Laube um ihn herum bildeten, und dem Morgenpalaver der Vögel zuhörte, vibrierte es wieder in ihm, in seinen Eingeweiden: die Erinnerung an dieses alles überschwemmende Hochgefühl, an die pure Glückseligkeit, die Lust, die ihm der Rausch seiner Macht verschafft hatte. Er badete in der Vorstellung ihrer aufgerissenen Augen, des Schmerzes, der wie ein gleichzeitig übler und erregender Hauch aus jeder ihrer Poren strömte, das sachte Britzeln der Säure, die sich in Sekundenschnelle auf ihrer Haut voranfraß. Mit Bedacht kostete er all die göttlichen Momente, die sich unauslöschlich in seinen Geist eingebrannt hatten, noch einmal aus. Doch hatten diese Eindrücke im Laufe der Zeit langsam an Wirkkraft verloren. Sie waren verblasst wie ein altes Foto im Sonnenlicht. Er würde neue Erinnerungsbilder machen müssen. Als es vollständig hell geworden war, stand er auf, streckte sich und ging auf den Hintereingang des Schlosses zu.
Er genoss die Gewissheit, die in jede Faser seines Körpers eingemeißelt schien: Er
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