Weller
Alkoholfahrt, die in einem Gartenzaun und mit Handgreiflichkeiten gegen den Gartenbesitzer geendet war, jedoch für eine vierzehnmonatige Freiheitsstrafe gereicht, die auf zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt worden war.
»Moin Weller.« Er legte den Motorradhelm zwischen uns auf den Resopaltisch, gab mir die Hand und installierte sich auf dem Besucherstuhl. Seine Lederkutte knarrte.
»Na, alles fit, Matthias?«
»Muss ja.«
Wir plauderten ein wenig über seinen neuen Job bei einer Rostocker Baufirma. Als er am Sommeranfang das Stellenangebot erhalten hatte, war er – nach einem knappen Jahr der Arbeitslosigkeit – zu Hochform aufgelaufen und hatte, mit meiner Unterstützung, bei Gericht erwirkt, dass das gegen ihn verhängte Fahrverbot aufgehoben wurde, damit er die Stelle annehmen und seine Firma erreichen konnte. Nun fuhr er täglich, ganz legal, mit seiner inzwischen amtlich angemeldeten Kawasaki Z 750 Streetfighter die 60 Kilometer nach Rostock und freute sich wie Bolle über die neu gewonnene Mobilität. Ich wurde jedoch das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte. Denn Matthias war ein richtiges Schlitzohr. Es war durchaus vorstellbar, dass er den Job bald wieder schmiss, ihn nur angenommen hatte, um das Fahrverbot auszutricksen. Nun, wir würden sehen.
Auch nach diesem Gespräch klingelte ich bei Jara an, ohne dass jemand abnahm.
Die Dritte, die mich besuchte, war Mandy, deren Situation deutlich desolater war als die der beiden Jungs vor ihr. Sie war im Heim und später bei Pflegeeltern aufgewachsen und hatte mit 15 ihr erstes Kind bekommen, das wiederum in eine Pflegefamilie gegeben worden war. Ein gutes Jahr später setzte sie das zweite Kind in die Welt – wie beim ersten Mal war der Vater nicht bekannt – und musste auch dieses abgeben, da sie selbst sich noch in staatlicher Erziehung befand. Ungeachtet dessen setzte sich ihre Geburtenfrequenz fort. Weder die staatliche Heimerziehung noch die Pflegeeltern waren anscheinend so weit gekommen, Mandy die Grundsätze der Empfängnisverhütung nahezubringen. Mit fatalem Ergebnis: Vor zwei Jahren, die zwanzigjährige Mandy gebar ihr mittlerweile viertes Kind allein zuhause, hatte sie es in krisenhafter Verzweiflung in einem Waldstück ausgesetzt, in dem Bewusstsein, dass auch dieses Kind ihr weggenommen werden würde, da sie nicht nur mittellos, sondern auch geistig und psychisch nicht in der Lage schien, mit ihrem eigenen Leben zurechtzukommen, geschweige denn, für ein Kind zu sorgen. Das wenige Stunden alte Mädchen war gestorben, seine Leiche von Spaziergängern entdeckt und Mandy wegen Totschlags verurteilt worden.
Mittlerweile war sie 22 und lebte ohne Ausbildung und feste Arbeit in einer winzigen Wohnung, bezog staatliche Unterstützung zum Lebensunterhalt und trudelte durch ihren Alltag, als wäre sie ein Luftballon, dem die Luft entwich. Sie wurde immer schlaffer, verspürte keinen Antrieb, etwas an ihrer Situation zu verbessern, hing mit irgendwelchen Losern herum und schleppte sich alle vierzehn Tage in meine Sprechstunde, um dann über irgendwelche Fernsehserien und Dokusoaps, die sie von morgens bis abends ansah, zu reden. Ich ließ sie meist gewähren, unterbrach ihren Redestrom nur gelegentlich, indem ich mich nach ihren aktuellen Lebensumständen erkundigte. Denn das mir auf den Nägeln brennende Hauptthema hatte ich gleich zu Beginn unserer Zusammenarbeit erfolgreich geklärt: Mandy hatte sich von mir überzeugen lassen, dass jede weitere Schwangerschaft ihren Kummer nur vergrößern würde, und sich eine Spirale einsetzen zu lassen.
»Das mit der Pille, das pack ich einfach nich, weißt«, hatte sie mir gestanden. »Ich vergess die immer. Und dann wirkt die ja nich«, hatte sie in halb belehrendem, halb verteidigendem Tonfall nach- und dabei ihre Unterlippe vorgeschoben. Daraufhin hatte ich meine Grundkenntnisse in Empfängnisverhütung hervorgekramt und ihr von den Alternativen zur Antibabypille berichtet. Nach einer zweiwöchigen Bedenkzeit durfte ich dann, während unserer Sprechstunde, den Termin bei einer Gynäkologin für sie ausmachen. Ein paar Wochen später war ich gemeinsam mit ihr zu diesem Termin gefahren und hatte sie bis ins Wartezimmer begleitet. Seither hatte ich einen dicken Stein in Mandys Brett, denn es war ihr allererster Frauenarztbesuch und sie starr vor Angst gewesen. Ihre Geburten hatte sie alle ohne fremde Hilfe in der Badewanne der Pflegeeltern – die weder davon, noch von ihren
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