Weller
gut. Es klang nicht anders, als hätte ich einen Wismarer Anschluss angewählt und ich erkannte die Stimme auf Anhieb. Für eine Sekunde überlegte ich, mich zu erkennen zu geben – vielleicht um sie zu fragen, ob sie ein Feuerzeug vermisste, damit ich meine Geschichte nach beiden Seiten hin absicherte. Doch nein, das war unnötig und mir wurde heiß bei dem Gedanken, sie könne das als Einladung zu weiterem Kontakt auffassen. Nein, kam nicht in Frage. Plötzlich sah ich in meiner Fantasie eine kofferbepackte Connor vor unserem Haus auftauchen und Einlass begehren. Durchaus vorstellbar.
»Weller, bist du das?«
Mein Atem setzte aus. Woher wusste sie … ich hatte ihr keine Nummer gegeben, schon gar nicht die meines Diensthandys.
»Ich wusste, du würdest Kontakt zu mir aufnehmen. Auch ich habe ständig an dich denken müssen, mein großer deutscher Freund.« Ihre dunkle Stimme rieselte mir das Rückgrat hinab. Doch sie bluffte, sagte ich mir, hatte vermutlich die deutsche Vorwahl erkannt und riet, wer sie wohl anrief.
Ich atmete aus und drückte auf die rote Taste. Hätte ich doch nur vor dem Anruf die Nummer unterdrückt. Nun könnte sie mich jederzeit zurückrufen. Nun, das Gerät war stets stumm geschaltet, nur der Vibrationsalarm zeigte Anrufe an. Ich würde eben vor der Rufannahme immer darauf achten, ob es die amerikanische Nummer war und den Anruf ablehnen. Immerhin hatte ich nun die Gewissheit: Connor gehörte nicht weiter zu den Verdächtigen.
Doch wieso erleichterte mich diese Erkenntnis nicht?
***
»Das Opfer, eine Zwanzigjährige, war nach einer durchtanzten Nacht im Mensakeller im Morgengrauen reichlich angetrunken auf dem Heimweg. Im Grünzug zwischen der Hochschule und dem Wonnemar hört sie ein Moped auf dem Weg hinter sich. Es überholt sie, bremst, die Gestalt darauf steigt ab und schüttet ihr, ohne ein Wort mit ihr zu wechseln, aus einer Flasche eine Flüssigkeit ins Gesicht. Da diese farb- und geruchlos ist, denkt sie zuerst, es wäre Wasser, glaubt an einen Scherzüberfall. Doch es ist Säure, die ihr Gesicht zerfrisst, die Hände verätzt, den Hals, den Brustkorb und ihr linkes Auge zerstört. Durch ihre Schreie gelangt die Säure auch in den Rachen und verätzt ihre Luftröhre. Als sie endlich realisiert, dass es sich nicht um einen Streich handelt, wehrt sie sich, versucht zu fliehen, doch der Täter schlägt sie bewusstlos. Bevor er seine Tat beenden kann, kommen glücklicherweise zwei andere Discobesucher den Weg entlang und vertreiben ihn. Jetzt liegt das Opfer im Klinikum. Die Ärzte haben sie, nachdem sie noch erste Angaben zum Tathergang machen konnte, in ein künstliches Koma versetzt, da ihre Verletzungen so gravierend sind. Sie erinnert nichts mehr. Ob wegen des Schocks, des Schlags auf den Kopf oder wegen ihres Alkoholpegels, ist eigentlich egal. Wir haben keine einzige brauchbare Aussage zum Aussehen des Täters, weder von ihr noch von den beiden Zeugen, die mindestens genauso betrunken waren, wie das Opfer.« Dietmar Holter kratzte sich am Schädel. »Es ist ein Kreuz mit diesen jungen Leuten. Nur Party und Saufen im Kopf. Was soll aus denen noch mal werden.«
Ihm fiel überhaupt nicht auf, wie absurd das gerade aus seinem Mund klang, an den er just in diesem Moment sein Bierglas setzte und einen gewaltigen Schluck nahm. Ich ging davon aus, dass er in seiner Jugend nicht eben weniger getrunken hatte als die drei, von denen er mir berichtete.
»Also keine Spur vom Angreifer? Was ist mit dem Trucker?« Quandt war inzwischen, unter strengen Meldeauflagen, aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Ich stocherte ein wenig in meiner Baked Potato mit Lachs. Der Appetit war mir vergangen. Doch Holter hatte darauf bestanden, mit mir im New Orleans essen zu gehen. Lisa war am heutigen Abend mit ihrer Line-Dance-Gruppe unterwegs, sodass die Küche zuhause auf Poel für ihn kalt blieb. Wir saßen in der lauen Abendluft draußen, unter einem der großen Schirme mit Blick auf den Alten Hafen, umgeben von kamerabewehrten Touristen mit Rib Eye und Porter House Steaks auf ihren Tellern und Einheimischen, die ebenfalls keine Lust zum Selberkochen hatten oder einfach nur einen Cocktail genießen wollten. Auf der Wasserstraße rollte müßig der Abendverkehr vorbei und gegenüber am Hafenbecken schlenderten Urlauber auf der Suche nach Zerstreuung den Kai entlang. Die Fischverkaufskutter hatten ihr Geschäft für heute beendet, die letzten Planen wurden heruntergerollt.
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