Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg
Gesicht. Das Kind lebte noch.
Mahan wartete.
»Lehne dich an mich«, sagte er zu Gerald.
Gerald kam heran und stellte sich Rücken an Rücken mit ihm. Hugh spürte Geralds Körper, das Zucken und Zittern, den Krampf, und er hatte Angst um ihn. Gerald erbrach sich. Allmählich erst ließ das Keuchen nach. »Es geht wieder.« Gerald wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Manchmal kommt es so. Herzkrampf, sagen sie, alles nervös, und ich spiele es nur. Die Schweine haben mich fertiggemacht. Der Doc war das Oberschwein. Die Schocks…«
Mahan behielt Iliff in seinen Armen und setzte den Weg mit Gerald zusammen fort. Es erhob sich ein leichter Wind, und endlich begann der Regen, den Mahan schon vor Tagen gespürt hatte.
»Wann hattest du den letzten Schock?«
»Vor drei Tagen. Zum Abschied, damit ich sie nicht vergesse.«
In Dunkelheit und zunehmendem Regen war die Hütte der Mahans erst zu sehen, als man davorstand.
»Klopf an, Gerald.«
Auf das Pochen hin öffnete Hetkala.
Gerald war zurückgetreten. Wasescha stand mit dem Kind auf dem Arm vor der Mutter.
»Mutter, ich komme mit zwei jungen Söhnen, die keinen Vater und keine Mutter mehr haben. Sie sind zu Gast bei uns.«
»Komm herein mit ihnen, Wasescha.«
Hetkala entzündete die Petroleumlampe. Hugh wickelte Iliff in eine trockene Decke und legte den Jungen auf die alte Couch, deren Überzug sich über schadhafte Federn spannte. Er lauschte noch einmal auf den Atem, fühlte den leisen Puls und kam dann zum Tisch, um der Mutter das Fleisch zu übergeben. Sie sollte es für die kommenden Tage haben. Jetzt in der Nacht war jeder um eine Handvoll Beeren und einen Becher Wasser froh.
Die beiden Männer hängten ihre Sachen zum Trocknen auf und dachten ans Schlafen. Gerald legte sich zu Iliff. Mahan nahm seinen Platz auf einer Wandbank ein, auf der er als Kind geschlafen hatte. Hetkala hatte ein Bretterbett.
Als der Sonntagmorgen dämmerte, kochte Hetkala die Fleischbrühe, und Mahan, der zum Bereitschaftsdienst im Internat aufbrechen mußte, trank einen Becher aus. Gerald und Iliff schliefen noch, und niemand wollte sie wecken, ehe sie ausgeschlafen hatten.
Hugh ging mit der Mutter zusammen auf den Hügel. Sie schauten über das Land nach der aufgehenden Sonne, die rot zwischen den grauen Wolken schwebte.
»Es sind Gerald und Iliff Bedford«, sagte Wasescha zu Hetkala. »Sie sind beide krank und einsam. Ich komme jetzt öfters und bringe euch Fleisch und Mehl, auch Geld.« Er gab der Mutter 50 Dollar; das schien ihr eine große Summe.
»Gut.«
Hetkala war froh, nicht wegen des Geldes, aber darum, daß sie nun wieder drei Söhne hatte.
Wasescha mußte sich beeilen. Mit seinen langen Schritten machte er den Weg bis zu seinem Wagen, von dem die Mutter noch nichts wußte.
Nicht alle Schüler, die im Internat aufgenommen waren, hatten Familien oder wurden von ihren Familien am Wochenende nach Hause geholt; einige mußten stets im Internat bleiben. Zu ihnen gehörte Julia Bedford. Mahan, der für diese Schüler Sonntagsdienst hatte, wurde mit ihnen zur nächstgelegenen Kirche gefahren, und er aß mit ihnen zu Mittag und half einigen bei schwierig erscheinenden Schularbeiten. Dann spielte er mit den Schülern Tischtennis und Schach. Als sie müde wurden, erzählte er ihnen von der großen Stadt Chicago, wo es nicht nur Gangster und Schlachthäuser gab, sondern auch eine Stahlindustrie, heute schon mächtiger als die von Pittsburgh. Er berichtete, daß er im Michigansee nicht mehr hatte baden können, weil das Wasser schmutzig geworden war und durch die Abwässer der Fabriken so warm, daß die Schlinggewächse auf dem Seegrund wucherten. Reiche Leute, sagte er, wohnten dort in runden Turmhäusern, so hoch wie einst der Turm von Babylon, von dem die Schüler in der biblischen Geschichte gehört hatten. Sie atmeten gefilterte Luft ohne Gestank und ohne giftige Gase, ohne Blumenduft, ohne Harzgeruch, ohne den würzigen Atem der Erde, ohne die Botschaften der Winde, die vom Eismeer und die aus dem Süden kamen. Mit künstlicher Luft lebten sie wie künstliche Menschen.
Aber in den Armenquartieren der Indianer gab es noch alle Gerüche aus der Küche Mexikos und Italiens, aus stinkenden Abgasen der Wagen und von dünstenden Menschen.
Als die Schüler wissen wollten, wie dies alles gekommen sei, erzählte ihnen Hugh Mahan aus der Geschichte Amerikas vieles, was indianische Kinder in der Schule nicht lernen durften.
Der Sonntag
Weitere Kostenlose Bücher