WELTEN-NEBEL
bedeutete. Sie würde alles tun, damit sie sich gut in Cytria einlebte.
Jahr 3620 Mond 4 Tag 28
Tempel-Oase
Jeder Tag glich dem vorangegangenen. Wenn sie nicht die Disziplin aufgebracht hätte, sie mit Kerben in einem Baumstamm zu zählen, sie hätte nicht sagen können, ob zehn oder hundert verstrichen waren. Sie tat, was zum Überleben notwendig war, aß, trank und schlief. Die restliche Zeit dachte sie nach, über die Vergangenheit, die Zukunft; über das, was gewesen war, und das, was hätte sein können. Manchmal bildete sie sich ein, Elecs Stimme zu hören. Bisweilen träumte sie, dass sein Geist sie heimsuchte. Es machte ihr Angst, doch zugleich tröstete es sie. Mitunter hatte sie Angst, verrückt zu werden.
Am Morgen hatte sie die achtzehnte Kerbe in den Stamm geritzt. Nun saß sie im Schatten der alten Mauern und döste. Plötzlich vernahm sie Stimmen, zunächst gedämpft und diffus, dann lauter und klar. Sie riefen ihren Namen. 'Madia, deine Reise ist noch nicht zu Ende. Du wirst deine Aufgabe erfüllen.' Auch wenn sich diese Worte lediglich in ihrem Geist formten, so waren sie dennoch real. Sie wusste, dass es die Götter waren, die ihr diese Botschaft sandten. In Gedanken formte sie eine Antwort darauf: 'Was soll ich tun? Wohin soll ich gehen?'
'Öffne deinen Geist. Vertraue auf deine Gefühle. Der Weg ist in dir.'
Was sollte das bedeuten? Warum konnten sich die Götter nicht verständlich ausdrücken? Gerne hätte sie noch viele Fragen gestellt, doch die Stimmen waren verstummt und ließen sie ratlos zurück. Sie stand auf, um einige Schlucke zu trinken.
Sie sollte ihren Geist öffnen. Wie sollte sie das anstellen, sollte sie meditieren? Das hatte sie nie gelernt. Eigentlich wusste sie nicht einmal, wie man richtig betete. Auf Roteha hatte sie vieles gelernt, auch über Religion, doch mal lehrte sie dort nicht, zu glauben und ihr Schicksal in die Hände der Götter zu legen. Sie dachte an ihren Lehrmeister Ruwen und daran, was er stets zu sagen pflegte: 'Am Anfang einer jeden Entdeckung steht die Neugier. Nur wer die Welt mit Neugier betrachtet und so, als sähe er sie zum ersten Mal, vermag sie wirklich zu sehen.' Warum ihr dieser Ausspruch wohl gerade jetzt eingefallen war? Vielleicht war er der Schlüssel? Vielleicht musste sie einfach nur die Augen öffnen und diesen Ort wirklich sehen? Aufmerksam schaute sie sich um.
Zunächst konnte sie nichts entdecken, was eines zweiten Blickes gelohnt hätte, doch dann fiel ihr etwas auf. Es war weniger etwas, was sie gesehen hatte, sondern vielmehr etwas, was sie noch nicht gesehen hatte. Sie hatte noch nie den Fußboden des Tempels gesehen. Ein solches Gebäude aber musste einen Fußboden haben, er war wohl nur unter dem Sand begraben. Aufgeregt begann sie, in einer Ecke des Gebäudes im Sand zu graben. In einem Fuß Tiefe stieß sie auf etwas Hartes, vermutlich Stein.
Es dauerte eine Weile, bis sie genug Sand entfernt hatte, um etwas zu sehen. Sie war wirklich auf den Boden gestoßen, denn der Stein war der gleiche wie der, aus dem die Wände errichtet worden waren. Er fühlte sich jedoch rauer an. Zu Vergleich strich sie über die Wand. Ja, irgendwas war anders. Sie pustete, um die letzten Sandkörner zu entfernen. Zum Vorschein kam ein Schriftzeichen, das in den Stein gemeißelt war. Die freigelegte Stelle war zu klein, als dass sie ein ganzes Wort sehen konnte. Wenn sie wirklich wissen wollte, was auf dem Boden des Tempels zu lesen stand, so würde sie eine Menge Sand beseitigen müssen. Ob dies die Mühe wert war? War es das, was sich die Götter von ihr erhofften? Sie hatten ihr gesagt, sie solle auf ihre Gefühle vertrauen, doch sie zögerte, ihre Gefühle zu ergründen. Sie erwartete, dort nichts als Schmerz und Trauer zu finden. Schließlich horchte sie doch vorsichtig in sich hinein und war erstaunt. Der Schmerz war nicht so überwältigend, wie befürchtet, sondern ließ Raum für ein anderes Gefühl: Neugier. Es verlangte sie, das Geheimnis des Tempels zu lüften. Dann sollte es so sein.
Den Rest des Tages verbrachte sie damit, Vorbereitungen zu treffen. Da sie weder Papier noch Tinte hatte, musste sie andere Möglichkeiten finden, sich Notizen zu machen. Einige der Früchte verfügten über einen sehr intensiv gefärbten Saft. Sie versuchte, mittels eines Stockes den Saft auf große Blätter aufzutragen, doch dies war nicht von Erfolg gekrönt. Natürlich konnte sie Sachen in die Rinde der Bäume ritzen oder in die Wände des
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