Weltenende (German Edition)
von der die alten Kulturen glaubten, dass hier die Toten wandeln würden. Aber nicht nur Orpheus konnte hinüberwechseln, sondern auch andere, sowohl die Toten wie auch die Lebendigen, früher und heute noch, auch wenn es nicht so einfach war.
„Hey, Jonas! Erinnerst du dich noch?“ Lennart trat aus dem Wald. Er war ein Mann geworden, groß, in einem weiten Mantel mit weißem schulterlangen Haar und selbst hier im dunklen Wald sah Jonas die bläulichen Augen, die bei Sonnenlicht so hell wie Lampen strahlen konnten.
„B in ich zu spät?“, fragte Jonas.
„ Ich habe schon befürchtet, wie hätten uns verpasst“, antwortete Lennart und seine Zähne funkelten für einen Augenblick. „Spielst du im Sommertheater mit?“
„Dieses Jahr nich t. Unsere Ferien liegen zu spät. Ich war während der Proben nicht auf Rabensruh.“
Jonas legte sich das Kreuz um den Hals und steckte e s unter das T-Shirt. Es war das erste Mal, dass er die Schwelle in die andere Welt alleine zurückgelegt hatte und auch das erste Mal, dass er eines der Artefakte trug, die den Übergang erst ermöglichten. Von ihnen gab es nur noch wenige. Wie man sie herstellte, war in Vergessenheit geraten, falls es je ein Mensch beherrscht hatte.
„Komm, wir müssen uns beeilen ! Wir sind auf der Insel nicht sicher.“
„ Wo werden wir hingehen?“
Lennart zeigte nach Süden oder zumindest dorthin, wo auf Rabensruh der Süden lag.
Jonas fror. Er trug keine Jacke, nur ein T-Shirt.
Lennart lief in den Wald hinein. Einen Weg gab es nicht und zwischen den Stämmen war es dunkler als auf der Lichtung, was Lennart aber kein bisschen zu stören schien. Er lief so schnell, dass Jonas rennen musste, um mitzuhalten, doch er stolperte dauernd über Wurzeln oder Äste schlugen ihm ins Gesicht.
Ludwig hatte mal erwähnt, dass es auf Rabensruh in der Anderswelt keinen Hafen geben würde, nur einen Steg ganz im Norden zur Seeseite hin. „Wo gehen wir hin?“, fragte er noch einmal und hoffte, Lennart würde langsamer machen.
„Das, was du zu holen beabsichtigst, befindet sich nicht auf der Insel.“
„Aber der Steg ist doch woanders ?“
„ Ich habe immer ein Ruderboot auf dieser Seite.“ Lennart blieb unvermittelt stehen und drehte sich um. „Seit dem es begonnen hat, Jonas, herrscht Krieg in der Anderswelt. Es ist besser für uns, wenn wir niemandem begegnen. Man kann nie sicher sein, wer auf unserer und wer auf der anderen Seite steht.“ Das Unser klang für Jonas verdächtig nach einem Deiner .
„ Mir ist kalt. Hast du was zum Anziehen?“
„Warum hast du nichts an?“
„Auf Rabensruh ist Sommer und Ludwig hat mich nicht vorgewarnt.“
Widerwillig streifte Lennart seinen Mantel ab, zog die darunterliegende Strickweste aus und gab sie Jonas, der dankbar hineinschlüpfte. Die noch von Lennarts Körper warme Weste fühlte sich angenehm auf seiner Haut an – leider nur für einen Augenblick, denn der Wind blies ungehindert durch die großen Maschen und die Wärme verflog rasch.
Bald erreichten sie das Ufer. Trotz der Dunkelheit hatte Lennart zielsicher die richtige Stelle gefunden. Es waren zwei kleine verklinkertes Ruderboote, die mit Zweigen abgedeckt zwischen den ersten Reihe Bäume lagen. Es gab hier keine Dünen wie auf Rabensruh und kaum Strand. Das Meerufer ähnelte eher dem eines Seeufers mit Bäumen, die bis dicht ans Wasser standen.
Lennart riss von einem die Zweige herunter, schob das Heck über die Steine ins Wasser und befahl Jonas einzusteigen. Jonas stieg umständlich über das Dollbord und griff nach den Rudern. Lennart stieß sie vom Ufer ab und sprang mit einem geübten Satz hinterher. Wild torkelte das Boot. Jonas ruderte zurück, drehte und zeigte senkrecht auf die See hinaus. „Da lang?“, wollte er wissen.
„Ja, so schnell, wie es nur geht !“
„Ich sehe keine Lichter.“
„Da sind auch keine“, antwortete Lennart.
Jonas zog die Ruder ungeschi ckt durchs Wasser, spritzte und Lennart raunte: „Schön leise und ruhig! Selbst das Wasser ist in Aufruhr.“ Was er damit genau meinte, wusste Jonas nicht und er fragte auch nicht. Aber auch das würde er einige Zeit später noch erfahren.
Auch wenn hier eine andere Jahreszeit herrschte, stand der Mond gleichfalls voll und groß am Himmel, wie in einem Hollywoodfilm, und doch konnte Jonas das Ufer kaum erkennen. Die Dunkelheit machte ihn nervös. Er legte sich in die Riemen und für eine halbe Stunde strengte er sich an, so gut er konnte, bis Lennart ihn
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