Weltenende (German Edition)
Meer und die Rufe der anderen in seinem Kopf. Er konnte nicht schlafen. Er stand wieder auf, stellte sich ans Fenster und schaute der aufgehenden Sonne zu, wie sie die Insel in ein gelbes Licht mit langen Schatten tauchte. Die Sommersonne sah man nur selten aufgehen, viel seltener als eine Wintersonne, dachte Jonas. Sie war klarer, farbiger, viel freundlicher als im Winter.
Jonas stieg hoch auf die Dachterrasse. Die ausklappbare Treppe knarzte, aber Carl ließ sich nicht stören; er schnarchte leise vor sich hin.
Die alten Teakholzpanelen waren von Sonne und Wind verwittert und kratzten unter Jonas nackten Füßen. Er schaute über die Scheune nach Süden in Richtung Leuchtturm und dann zurück zur Ortschaft. Ob Ludwig gerade dort oben auf dem Kirchturm war und dasselbe tat wie er? Durch das schräge Licht war jede Senke deutlich auszumachen. Ein heller Lichtpunkt unweit Rabensöd und der Schwitzhütte in den grünen Hügeln am Ufer fiel Jonas auf. Er flackerte leicht, als wäre es ein Feuer und … Jonas beschlich ein Gefühl der Sorge. Die Freude der Nacht wich der Realität, der drohenden Apokalypse, die er für Stunden vergessen hatte. Mit dem Gedanken kam ein tiefes Gefühl der Scham über ihn. Er war unvorsichtig gewesen, nicht wachsam, wie es sich für einen wie ihn gehörte. Mit ihm war nichts geschehen, aber passiert war dennoch etwas …
Als sie aufstanden, hatte Carl Kopfschmerzen, was er bei Fanny natürlich nicht erwähnte, jedenfalls nicht, bis sie demonstrativ die Packung Aspirin auf den Tisch legte.
„Ihr wart ein entzückendes Paar“, sagte sie und legte eine Hand auf Jonas Schultern.
Jonas wurde rot und Carl lachte. „Siehst du deine Frau wieder oder seid ihr schon geschieden?“, fragte er süffisant.
„Ich weiß nicht“, antwortete Jonas verhalten.
„Könnt ihr beim Aufräumen helfen?“ , fragte Fanny.
Carl stöhnte. „Warum müssen wir alles machen? Wir haben schon den ganzen Tag beim Aufbau geholfen.“
„ Du hast ganz sicher nicht alles gemacht. Aber das meiste ist wahrscheinlich schon weg. Geht zwei Stunden rüber, ihr müsst es ja nicht übertreiben. Da gab es einige gestern, die sich nicht gerade überarbeitet haben.“
J onas schlürfte seinen Tee und wollte nichts essen. Marie kam zu ihnen in die Küche.
„Bis wann warst du denn auf dem Fest?“, fragte Jonas.
„Ich weiß nicht genau“, antwortete sie.
„Nach der Hochzeit habe ich sie heimgebracht “, antwortete Fanny.
„Hast du dich amüsiert?“ , fragte Jonas.
„Sie behaupten, dass du Melanie geküsst hättest“, meinte Marie.
„Das hast du doch gesehen“, antwortete Jonas und spürte, wie er rot anlief.
„Nein, danach noch einmal.“
„Sie haben fürchterlich herumgemacht“, antwortete Carl.
„Sag nicht immer solche Sachen“, fauchte Fanny. Jonas schlürfte noch lauter an seinem Tee, darauf bedacht keinen leeren Mund zu bekommen. „Geh nach dem Fohlen sehen, Marie! Es ist noch nicht gefüttert worden. Und hör auf nichts, was dein Bruder sagt.“ Und zu Jonas sagte sie: „Es ist ein Brief abgegeben worden für dich.“ Fanny holte ihn aus dem Flur und gab ihn Jonas.
„ Bestimmt ein Liebesbrief“, spottete Carl.
Auf dem Umschlag stand nur Jonas Namen , keine Briefmarke, kein Absender.
„Wer hat ihn gebracht?“
„Das weiß ich nicht. Er lag vor der Tür, als ich raus kam.“
Jonas riss ihn auf. Darin war ein einfaches kariertes Blatt mit Füller beschrieben. Es war Ludwigs krakelige Handschrift. „Ich soll um zwanzig Uhr in die Kapelle kommen“, sagte er.
Marie war noch da und schaute über die Schulter. „Der ist ja von Ludwig. Warum ruft er nicht an?“
„ Vielleicht wollte er mich nicht wecken“, log Jonas und faltete die Nachricht wieder zusammen.
Marie ging endlich in den Stall.
„Das mit dem nicht Telefonieren nimmt er jetzt aber ernst“, meinte Carl leise.
„Seltsam , aber ich kann auf weitere Überraschungen à la Sommertheater verzichten.“
Fanny ging zum Barometer an der Wand und klopfte sanft auf das Glas. „Ihr solltet euch beeilen. D as Wetter wird umschlagen.“
„ Nicht schon wieder ein Sturm!“
„Nein, der Wind hat auf Nord gedreht. Aber es wird kälter werden und Regen geben. Ihr solltet lange Hosen anziehen.“
Da für war es ihnen noch zu warm. Sie liefen zum Dorfanger, aber viel zu tun gab es nicht mehr. Einige Standhafte waren nicht einmal nach Hause gegangen und hatten gleich nach dem Ende zum Sonnenaufgang mit dem Aufräumen begonnen.
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