Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
während sie zu dem Haus aufblickte. »Es ist kompliziert. Ich erzähl es dir später.« Sie stieg die Stufen hinauf und klingelte.
Die Tür wurde aufgerissen, noch ehe Gemma den Finger vom Knopf genommen hatte.
Ellen Miller-Scott stand da und starrte sie an.Von dem perfekten Styling, das sie ihnen bei ihrem letzten Besuch präsentiert hatte, war nichts mehr zu sehen. Ihr blondes Haar war zerrauft, ihr ungeschminktes Gesicht tränenüberströmt. »Aber ich habe doch gerade erst angerufen«, stieß sie schluchzend hervor. »Wie sind Sie … Sie müssen mir helfen … Er … Ich kann nicht …«
»Wo?«, herrschte Kincaid sie an. »Zeigen Sie es uns.«
Sie machte kehrt und begann mit schwankenden Schritten die Treppe hinaufzusteigen, wobei sie sich am Geländer festhalten musste. Sobald Kincaid sah, wohin sie ging, schoss er an ihr vorbei, Gemma im Schlepptau, und überließ es Cullen, sich um die Frau zu kümmern.
Doch an der Tür von Dominic Scotts Wohnung blieb Kincaid wie angewurzelt stehen, sodass Gemma fast in ihn hineingelaufen wäre.
»Ach du Schande«, sagte er und trat langsam ins Zimmer. Sobald sein Rücken ihr nicht mehr die Sicht verdeckte, konnte auch Gemma sehen, was er sah.
Dominic Scott hing in seinem Wohnzimmer am Deckenbalken. Ein aus Krawatten geknüpftes Seil war um seinen Hals geschlungen, und unter ihm lag ein umgekippter Stuhl. Er trug Jeans und ein aufgeknöpftes Oberhemd, und seine Füße waren nackt. Sein hübsches Gesicht war purpurrot angelaufen, und seine offenen Augen blickten stumpf und ausdruckslos, wie es nur die Augen der Toten tun.
Ein entsetzlicher Geruch hing in der Luft, und aus den Hosenbeinen seiner Jeans tropfte Urin auf den Teppich.
»Können Sie denn gar nichts tun?«, jammerte Ellen Miller-Scott. Gemma sah, dass sie ihnen ins Zimmer gefolgt war und dass Cullen sie zurückzuhalten und gleichzeitig mit seinem
Handy zu telefonieren versuchte. Gemma legte den Arm um die Frau, sodass Cullen sie loslassen konnte.
Dominics Mutter wandte sich zu ihr um und flehte: »Können Sie ihn denn nicht da runterholen? Bitte? Ich habe es versucht, aber ich habe es nicht …«
Gemma fing Kincaids Blick auf und schlang den Arm noch fester um sie. »Mrs. Miller-Scott … es tut mir leid, aber ich fürchte sehr, es ist zu spät.«
19
Mittwoch, 17. Januar 1945
Heute Morgen Orangen in Notting Hill.
Vere Hodgson, Few Eggs and No Oranges: The Diaries of Vere Hodgson 1940-1945
Während Gemma Ellen Miller-Scott zurückhielt, nahm Kincaid Cullen beiseite und wies ihn an, die Rechtsmedizin und die Spurensicherung für den Tatort anzurufen.
»In Ordnung, Chef«, sagte Cullen, um dann in vernehmlichem Flüsterton hinzuzufügen: »Aber wie wahrscheinlich ist es denn, dass jemand ihm das angetan hat?«
Kincaid brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen und schüttelte den Kopf, doch Gemma wusste, was er dachte. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie so etwas erlebten – dass das Opfer zunächst erdrosselt und dann aufgehängt wurde, um einen Selbstmord vorzutäuschen.
Ellen Miller-Scott riss sich von Gemma los. »Was soll das heißen, Tatort? Sie denken doch wohl nicht, dass Dom…« Sie starrte die Leiche ihres Sohnes an und rang zitternd nach Luft.
»Mrs. Miller-Scott, wir gehen jetzt besser nach unten.« Ellen Miller-Scott würde jeden Hörtest mühelos bestehen, dachte Kincaid. »Doug, warten Sie bitte hier auf die Verstärkung?«
Gemma hatte nicht den Eindruck, dass Cullen von dem Vorschlag über die Maßen begeistert war, doch er nickte und zog sein Handy aus der Tasche.
Aber erst nachdem die Rettungssanitäter eingetroffen waren, einen Blick auf den Erhängten geworfen und kopfschüttelnd gesagt hatten: »Da sind wir nicht mehr zuständig«, gelang es Gemma und Kincaid, die protestierende Ellen Miller-Scott nach unten in ihren weißen Salon zu manövrieren.
Die kühnen Farbkleckse der Gemälde an den weißen Wänden wirkten grell und irgendwie pietätlos nach dem, was sie oben gesehen hatten. »Ich kann ihn doch nicht allein lassen«, sagte Ellen Miller-Scott wieder und wieder, während sie sich zur Treppe umblickte.
Gemma führte sie zum Sofa und platzierte sie bewusst so, dass sie die Eingangshalle nicht im Blick hatte, während Kincaid sich einen Stuhl heranzog, um ihr direkt ins Gesicht sehen zu können.
»Mrs. Miller-Scott, ich weiß, dass Kristin Cahills Tod Ihren Sohn sehr mitgenommen hat«, sagte er. »Aber war da noch etwas anderes, was ihn bedrückte?«
Ellen
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