Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
wieder über Kopfhörer London Calling reingezogen hatte.
Er hasste es, wenn die Erwachsenen ihn wie ein Kind behandelten, und sein Vater und Gemma hatten ihn total abblitzen lassen, als er sie gefragt hatte, wie ernst die Diagnose von Gemmas Mutter sei.
Vi war natürlich nicht seine richtige Großmutter, aber er musste feststellen, dass das eigentlich keine Rolle spielte. Sie war immer nett zu ihm gewesen, sie hatte ihn mit Leckereien verwöhnt, hatte ihn auf ihre schroffe Art aufzumuntern versucht und ihn mit offenen Armen in ihre Familie aufgenommen, als er sich so einsam und verlassen gefühlt hatte wie nie im Leben.
Und dann war da Gemma. Für Toby war es nicht ganz so schlimm, er war noch zu klein, als dass es ihm viel ausgemacht hätte, aber Gemma … Er hätte zu gerne gewusst, was er ihr sagen sollte. Er kam sich so dumm und unbeholfen vor, und ihm fehlten einfach die Worte.Was sagte man zu jemandem, dessen Mutter vielleicht sterben würde?
Und mit Erika gestern war es das Gleiche gewesen. Er hatte nicht gewusst, was er sagen sollte, als sie ihm von ihrer Flucht aus Deutschland erzählt hatte und vom Tod ihres Vaters im KZ. Später hatte er zu Hause über das Lager nachgelesen, in das die jüdischen Männer aus Berlin geschickt worden waren – Sachsenhausen -, und sich hinterher gewünscht, er hätte es nicht getan. Aber die Neugier nagte trotzdem weiter an ihm, und er hätte zu gerne den Rest von Erikas Geschichte gehört.Was
hatte sie gemeint, als sie gesagt hatte, die Nazis hätten ihr die Brosche nicht gestohlen? Danach hatte sie das Thema gewechselt und nichts weiter dazu sagen wollen, und Gemma hatte sie nicht gedrängt.
»Kit! Raus aus den Federn!«, hörte er seinen Vater rufen. Er sah ihn vor sich, wie er am oberen Treppenabsatz stand und sein Hemd zuknöpfte, frisch geduscht und nach Seife duftend, die Haare noch feucht und zu einem sauberen Scheitel gekämmt, der nur so lange halten würde, bis sie trocken waren.
Gemma würde bald herunterkommen und Toby beim Anziehen helfen – oder zumindest mit ihm darüber streiten, was er anziehen durfte -, und dann würde es Frühstück geben, und die Küche würde von plappernden Stimmen und dem Gebell der Hunde erfüllt sein. Plötzlich erschien ihm der Tag schon viel heiterer.
Er packte Tess und setzte sie kurzerhand auf dem Boden ab. Dann schlug er die Decke zurück und rief: »Bin schon auf!«
Als Gemma in die Küche kam, hatte Kincaid schon den Kaffee aufgesetzt und stellte gerade die Cornflakesschachteln für die Jungs auf den Tisch. Doch als er ihr eine Tasse hinhielt, schüttelte sie nur den Kopf.
»Keine Zeit. Toby wollte unbedingt statt der Schuluniform sein Spiderman-T-Shirt mit Löchern drin anziehen. Und ich will so früh wie möglich im Büro sein, um zu sehen, was anliegt, und dann rasch ins Kranken…«
Kincaid schüttelte den Kopf.
»Was ist?«, fragte Gemma, die sich gerade ein Glas Saft hatte einschenken wollen und nun in der Bewegung innehielt.
»Du kannst nicht ständig alles an Melody delegieren und deinen Pflichten ausweichen. Du musst deinem Chef und Melody von deiner Mutter erzählen und dir ein paar Tage Urlaub …«
»Aber ich will nicht – es ist mir unangenehm …« Sie fuhr sich
mit der Hand durch ihre neue Kurzhaarfrisur, und mit ihrem freien Nacken kam sie sich plötzlich ganz schutzlos vor. Sie vermisste immer noch das Gewicht des langen Zopfes am Rücken. »Ich will nicht meine persönlichen Probleme in der Arbeit ausbreiten. Dann weiß in fünf Minuten die ganze Dienststelle Bescheid, und ich ernte von allen nur noch mitleidige Blicke.«
»Wäre es dir lieber, dass sie denken, du schleichst dich zu einem heimlichen Stelldichein mit dem Milchmann davon?«
Gemma musste unwillkürlich lächeln. » Stelldichein? Wer sagt denn heute noch Stelldichein ? Und im Übrigen will ich natürlich nicht, dass die Leute denken, ich hätte eines mit dem Milchmann – was auch immer man sich darunter vorzustellen hat.« Sie seufzte. »Ich werde gleich als Erstes mit Mark reden. Und danach mit Melody.«
Er kam um den Tisch herum, um sie in die Arme zu schließen, und sie entspannte sich ein wenig, genoss für einen Augenblick die beruhigende Nähe seines warmen, festen Körpers. »Eine kluge Entscheidung«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Und außerdem bin ich besser als der Milchmann.«
»Woher willst du das denn wissen?«, flüsterte sie zurück.
Er hatte sie vertröstet und gesagt, er wolle abwarten, bis sie das
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