Wen die schwarze Göttin ruft
dachte Veronika. Tiefgrüne Augen, wie Turmalin. Gibt es bei Menschen solche Augen?
»So also siehst du aus«, sagte Sikinika eisig. »So muß eine Frau aussehen, um von diesem Mann geliebt zu werden!«
Von ihm!
Veronika erstarrte. Von ihm! Sie spricht von Alex! Der Blick der goldenen, gleißenden Frau lähmte sie plötzlich. Von ihm! Und sie begriff: Es geht um mehr als um die Operation an dem Jungen.
»Ich … ich liebe ihn …«, sagte Veronika. Ihre Stimme hatte keinen Klang mehr. Nach dem letzten Wort kam kein Laut mehr.
Schweigend standen sie sich gegenüber – so nahe, daß sich jede in den Augen der anderen spiegelte. Unter dem Goldpuder lief ein leichtes Zucken über Sikinikas Gesicht, von den Lippen beginnend bis zu den Augenwinkeln. Auf den Lidern glitzerte der Diamantstaub.
Schweigen.
Aber diese Stille war in Wirklichkeit eine Schlacht. Mit ihren Blicken hieben sie aufeinander los: zwei Frauen, die sich gegenseitig bekämpften mit ihrem stummen, wilden Haß.
18
Es gab keinen Sieger und keinen Besiegten. Wie waren sie doch gleich in ihrer Liebe zu dem einen Mann, der ihr Schicksal in Händen hielt! Was tat's, daß die eine die Macht besaß, die andere nur ihren Herzschlag? Mit Macht allein war der geliebte Mann nicht zu erobern, das wußte Sikinika jetzt genau, und sie war trotz allen lodernden Hasses klug genug, ihre Göttlichkeit nicht auszuspielen.
»Du sollst zu ihm gehen«, sagte sie. Ihr Gesicht war wieder zur Goldmaske geworden, in Reglosigkeit erstarrt. »Er wartet auf dich. Er will, daß du ein Zimmer neben ihm bekommst.«
Veronika nickte. Das Unglaubliche, das sie hörte, begriff sie erst langsam. Er will! Das bedeutete nichts anderes, als daß Alex und diese Frau, die sich Göttin nannte, bereits mehr miteinander verband als ein Gespräch zwischen dem Arzt und der Mutter eines Patienten.
»Ich wußte, daß er mich holen lassen wird«, sagte Veronika. Sie sprach es mit einem verzweifelten Mut aus, und jedes Wort traf Sikinika wie ein Hieb.
»Ich habe dich gesehen, nun geh!« Mit einer plötzlichen Armbewegung schleuderte Sikinika die überraschte Veronika von sich. Der Stoß war so heftig, daß sie taumelte. Ihre Arme ruderten und suchten einen Halt, dann verlor sie das Gleichgewicht und stürzte auf den Mosaikboden. Ein kaltes, hartes Lachen begleitete sie. Veronika starrte zu Sikinika hinauf, und ein eisiger Schauer überlief sie. Sie lacht, ohne den Mund zu verziehen! Sie kann lachen, ohne daß sich ihr Gesicht verändert.
»Ich bin schöner als du!« sagte Sikinika. »Du wirst ihn verlieren!«
»Du bist nur eine Maske!« schrie Veronika. Sie blieb auf dem Boden liegen, aber ihre ganze Not, ihre Angst um Alex – die Furcht, wirklich gegen diese Frau zu verlieren – brüllte sie mit diesen Worten hinaus. »Eine kalte, goldene Maske! Eine Statue! Nichts ist an dir echt! Nichts! Nur aufgemalt, angestrichen, und das noch geschmacklos. Wieviel Goldpuder brauchst du, um deine Falten zu verdecken? Jeden Tag ein halbes Pfund?«
Sie wußte, daß sie unrecht hatte, sie sah die unwirkliche Schönheit dieser Frau, aber sie wollte sie treffen, wollte sie beleidigen, wollte sie mit ihren Worten schlagen. Du kannst mich nicht töten lassen, dachte sie dabei, auch wenn du es jetzt mit eigener Hand tun würdest. Du mußt dir alles anhören, und du sollst es hören. Ich liebe Alex! Ich liebe ihn! Ich liebe ihn …
»Du hast Angst«, sagte Sikinika mit eiskalter Stimme. »Nicht Angst um dein Leben. Angst um ihn! Und ich nehme ihn dir weg. Ich bin schöner als du!«
Fassungslos, von einem plötzlichen Licht geblendet, wurde Veronika zum erstenmal Zeuge, wie ein Mensch durch eine goldene Wand gehen und verschwinden kann. Ein Phänomen, das auch Alex und Paul Stricker nicht erklären konnten.
Durch eine andere, bisher ebenfalls unsichtbare Öffnung erschien ein Offizier und winkte. Veronika sprang auf. Die Erstarrung ließ nach, aber es krampfte sich alles in ihr zusammen, das Hämmern ihres Herzens erschien ihr so laut, als wären es Paukenschläge, die zwischen diesen goldenen Wänden dröhnten.
Sie ist wirklich schöner als ich, dachte sie und folgte mit unsicheren Schritten dem schwarzledernen Offizier. Eine solche Schönheit hat noch keiner gesehen, das gab es auch auf den Bildern schönheitstrunkener Maler nicht. Aber kann ein Mann eine Frau lieben, die wie ein Denkmal ist? Eine Frau, die Kälte ausstrahlt? Mit einer Stimme, die dich frieren läßt? Kann eine goldene Statue zärtlich
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