Wen die schwarze Göttin ruft
sein?
An einigen Mädchen, denen sie begegneten und die vogelähnliche Kopfbedeckungen trugen, sah Veronika, daß sie in das Krankenhaus gekommen waren. Zwei Priester-Ärzte musterten sie hoheitsvoll und abweisend – der gleiche Blick wie bei der Königin.
Ein Gang war abgesperrt von sechs Soldaten. Ein Arzt mit einer silberbestickten Kappe – einer der Oberärzte – empfing Veronika schweigend und führte sie weiter. Der Offizier blieb zurück. In die unmittelbare Nähe der Götter dürfen nur die Priester.
Eine Tür wurde aufgestoßen: ein mittelgroßes Zimmer mit einem Bett, einem Tisch, einem Stuhl und dem Ständer mit der tönernen Waschschüssel; die Wände bespannt mit gestickten Decken. Der Priester verneigte sich knapp und ließ Veronika allein. Die Tür blieb offen. Es war das einzige, was diesen Raum von einer Gefängniszelle unterschied.
Veronika setzte sich auf das Bett und krallte die Finger um die Bettkante. Man hat mich belogen, dachte sie plötzlich. Man hat mich nicht zu Alex geführt. Das hier ist ein großes Grab, weiter nichts. Man will mich wahnsinnig machen, ich soll aus Angst verrückt werden. Sie haben mich von allen anderen entfernt, damit mich die Einsamkeit auffrißt! Wenn ich dann schreie und tobe, werden sie Alex holen und sagen: Das ist sie jetzt. Sie hat den Verstand verloren. Wir konnten es nicht verhindern. Und dann wird sie kommen, sie, die schönste Frau, die es je gegeben hat.
Nicht mit mir, dachte Veronika. Ihr kriegt mich nicht klein! Ihr wißt nicht, wieviel Kraft ich besitze! Liebe versetzt Berge, ich habe es immer für eines der dümmsten Sprichwörter gehalten. Jetzt weiß ich, wie wahr es ist: Ich könnte ganz Urapa versetzen.
Sie sprang auf, rannte hinaus auf den Gang und ballte die Fäuste. »Ihr Lügner!« schrie sie. »Ihr gemeinen Heuchler! Ihr …«
Die Tür neben ihr wurde aufgerissen. Und da verstummte sie plötzlich: der Gang, Wände und Decke drehten sich – sie suchte Halt und spürte, wie zwei Arme sie packten. »Alex …«, stammelte sie. »Alex! Sie haben mich wirklich zu dir gebracht. Sie haben …« Und sie spürte noch, wie er sie küßte, sie hatte sogar noch die Kraft, ihre Arme um seinen Nacken zu schlingen, dann wurde es dunkel um sie.
Später lag sie auf dem Bett. Alex hatte ihr eine kalte Kompresse auf die Stirn gelegt, saß neben ihr und hielt ihre Hand. Ihr Lächeln war voll kindlichen Glücks.
»Es war alles zu viel für mich«, sagte sie matt. »Ich habe geglaubt, sie wollten mich lebendig begraben. Im alten Ägypten war das so üblich.« Sie drehte sich auf die Seite und legte ihr Gesicht auf seine Hand. »Vielleicht tun sie es noch, wie bei Aida und Radames.«
»Zuerst wird man abwarten, wie die Operation verläuft.« Alex lebte seit Stunden nur noch in dieser Operation. Was Veronika andeuten wollte, worauf sie wartete – auf eine Erklärung vielleicht, was zwischen ihm und Sikinika vorgefallen war –, er reagierte nicht darauf. Ihr Herzensproblem erreichte ihn nicht. Für ihn war das Osteom jetzt allein der Mittelpunkt seines Lebens.
Er hatte den Jungen gründlich untersucht. Nichts sprach gegen eine Verschiebung des Termins. Kreislauf, Herz, Blutdruck, Puls, alles war normal. Er hatte noch einmal das Bein untersucht und sich selbst eingeredet, daß es nur ein Osteom war. Der Junge hatte jeden seiner Handgriffe mit seinen großen blauen Augen beobachtet. Als er seine Instrumente wieder in die Tasche packte, hatte der Junge gefragt: »Muß ich sterben?«
»Natürlich! Wir müssen alle sterben. Und keiner weiß, wann. Es wäre auch schrecklich, wenn jeder seine Todesstunde wüßte. Aber ich weiß eins, Sikinophis: Du wirst übermorgen nicht sterben.«
»Das versprichst du mir?«
»Das verspreche ich dir.«
Seit diesem Gespräch beherrschte ihn nur der eine Gedanke: Es darf keine Komplikationen geben! Auch wenn es kein Osteom, sondern ein bösartiger Tumor ist, und ich das Bein bis zum Hüftgelenk abnehmen muß: Es darf keine Komplikationen geben! Ich habe mein Wort gegeben. Die Gefahr liegt nicht in dem Bein, sie heißt Dombono! Er kann während der Operation einen Zwischenfall inszenieren, dem ich wehrlos ausgeliefert bin. Es gibt viele Möglichkeiten, am OP-Tisch Schicksal zu spielen. Jede Operation ist ein Eingriff in das Schicksal, und der Mensch, der da vor einem liegt, ist wehrlos.
»Ich habe dich kommen lassen, damit du mir hilfst«, sagte Alex jetzt. »Bei der postoperativen Pflege.«
»Nur deshalb, Alex?« Ihre
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