Wen die schwarze Göttin ruft
um ihm zu bedeuten, daß er die Beichte der Königin vergessen solle.
Und hier, in einem schönen Garten mit riesigen Blumen, erzählte der Junge, wie er einmal über Urapa regieren wolle. Fremde Wissenschaftler sollten ins Land kommen, alles solle anders werden. Urapa müsse aus dem Talkessel heraus.
»Ich würde es nicht tun, Sikinophis«, sagte Huber. »Dein Volk, dein Land würden vernichtet werden, und eure ganze herrliche Stadt wird zu einer Touristenattraktion werden wie Disney-Land. Du weißt nicht, was Disney-Land ist, es ist auch nicht nötig. Du mußt nur eins wissen: Es gibt nichts Schrecklicheres als den Menschen!«
»Das sagst du, wo du täglich Menschen rettest? Warum bist du Arzt geworden?«
»Das ist eine heikle Frage, mein Junge. Warum? Weil es eine schöne Aufgabe ist, Kranken und Hilflosen zu helfen. Aber wenn die Hilflosen dann wieder stark sind, setzen sie die Zerstörung fort. Dankbarkeit ist ein Wort, das sich vielleicht in einem Händedruck ausdrückt, und dann ist es vergessen. Wie oft habe ich das erlebt. Mein Junge!« Huber wurde sehr ernst. »Laß Urapa, wie es ist! Nur eins kannst du ändern: Es gibt keine Götter, die man durch Menschenopfer versöhnen oder beeinflussen kann! Schaff diese sinnlosen Opfer ab; dann wirst du über das glücklichste Volk der Erde regieren.«
Dann kam der Tag, da der weiße Arzt durch Dombono der Göttin sagen ließ, daß er das Bein des Jungen belasten wolle. Es war ein schöner, sonniger Tag, und wie bei der Operation begannen über Urapa die Gongs zu dröhnen. Das Volk war unterrichtet und wartete auf den Straßen, in den Gärten, auf den Feldern, auf den Dächern. Es starrte hinauf zum Allerheiligsten, der Spitze der Pyramide. Stieg dort eine weiße Rauchfahne in den Himmel, war der Sohn der Sonne gerettet.
Huber und Veronika stützten Sikinophis. Er saß auf der Bettkante, seine Beine baumelten herab. Nach den Wochen des Frohsinns und der Hoffnung war die Minute der neuen Angst gekommen. Die Augen des Jungen suchten Hilfe bei seinem Retter. Sein schöner Mund zitterte.
»Kann ich wieder laufen?«
»Denk daran, was ich dir gesagt habe. Du wirst das Gefühl haben, als stündest du auf Säulen aus pappigem Reis. Und denk daran: Draußen vor der Tür wartet Dombono. Wenn du die Tür aufmachst und kommst ihm entgegen, ist das mehr als ein Sieg!« Huber nickte Veronika zu. Sie schoben den Jungen auf die Füße und hielten ihn unter den Achseln fest. Sikinophis hing in ihren Armen. Er wagte es nicht, aufzutreten.
Jetzt ein Röntgengerät, dachte Huber. Wie einfach wäre das alles! Dann könnte man mit einem Blick sehen, wie sich der Knochen entwickelt hat. So kann man nur glauben und hoffen.
»Stell dich hin!« sagte er laut. »Nur Mut, mein Freund! Mut! Du willst doch ein mutiger König werden? Man kapituliert nicht vor dem eigenen Bein!«
Sikinophis nickte. Sein Körper straffte sich. Er stand. Aber seine Beine zitterten bis zu den Hüften.
»Bravo!« sagte Huber und warf Veronika einen beruhigenden Blick zu. »Das Zittern hört gleich auf. Denk daran, mein Junge: Draußen vor der Tür steht Dombono! Welch ein Triumph für ihn, wenn du jetzt schlapp machst! Und jetzt – los!«
Der Junge bewegte die Beine. Er machte einen Schritt und blieb stehen. Huber gab Veronika mit den Augen ein Zeichen, sie ließ Sikinophis los. Nur Huber hielt ihn noch fest.
»Mit einem Schritt kommt kein König weiter«, sagte er energisch. »Geh! Es kann überhaupt nichts passieren.«
Er nahm seine Hände weg, und dann geschah das, was selbst Huber den kalten Schweiß auf die Stirn trieb: Der Junge ging mit staksigen Beinen weiter, Schritt für Schritt. Er erreichte die Tür, klinkte sie auf und stieß sie zurück. Im Flur stand in seinem goldenen Festgewand Dombono und starrte ihn an.
»Ich gehe!« sagte Sikinophis. »Siehst du! Ich gehe! Ich habe keine Schmerzen mehr! Ich habe keine Schmerzen mehr!« Und dann schrie er auf und brüllte Dombono an, indem er an ihm vorbei durch den langen Flur ging. »Ich kann gehen! Ich kann gehen! Ich habe meine Beine wieder!« Er breitete die Arme aus, stellte sich in die Sonne, die durch die Fenster flutete, und sein blondes Haar leuchtete auf wie ein Strahlenkranz.
Der Sohn der Sonne.
Draußen erklangen dumpfe Gongschläge. Von der Spitze der Pyramide, vom Allerheiligsten, stieg eine dünne weiße Rauchsäule auf. Und die ganze Stadt Urapa ertönte in einem einzigen Jubelschrei.
An diesem Abend wurde den ›Gästen‹ ein
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