Wen die Sehnsucht besiegt
werfen. Neugierig ging sie zu den Kindern. Weil sie klein und nicht viel älter war als die vier Jungen, faßten sie schnell Zutrauen und erklärten ihr, worauf es bei diesen Spielen ankam. Als Rhys auftauchte, um Axia zu holen, brüstete er sich damit, der beste Ballfänger der Welt zu sein, was er zu beweisen suchte. Thomas gesellte sich hinzu, und behauptete, er könne den Reifen so gut rollen lassen wie sonst niemand auf Erden. Natürlich demonstrierte auch er seine Kunst. Nach einer Weile schlenderte Jamie zum Ufer, wo die vier Kinder und drei Erwachsenen lauthals lachten und spielten. Amüsiert beobachtete er das muntere Treiben. Aber Axias Miene verschloß sich. Sie gab dem Jungen seinen Becher zurück und ging davon. Abrupt erstarb das Gelächter.
An diesem Tag freundete sie sich mit Rhys und Thomas an. Auf der Weiterreise ritten sie neben Axias Wagen und beantworteten alle ihre Fragen. Wenn sich keine Leute blicken ließen, die Tode anstarren konnten, lenkte er das Gespann, und Roger ruhte sich aus. Die vier bildeten eine fröhliche Gruppe, scherzten übermütig, gaben einander Rätsel auf und versuchten sich an Wortspiele aus der Kindheit zu erinnern. Da Axia ihre ersten Lebensjahre ausschließlich in der Gesellschaft Erwachsener verbracht hatte, konnte sie nicht auf solche Aktivitäten zurückblicken. Das erste Kind, das sie gesehen hatte, war der zwölfjährige Tode gewesen, das zweite Frances - wahrlich eine Bereicherung.
Jeden Abend zeichnete sie Porträts. Ehe die Dunkelheit hereinbrach, hielten die Wagen auf einer Wiese. Unter Axias Anleitung entzündeten die Fahrer ein Lagerfeuer und hingen einen großen Eisenkessel, mit einem Eintopf gefüllt, über die Flammen. Die Zutaten für das Essen hatten sie im nächstgelegenen Dorf gekauft.
Wann immer sie an einer Bäckerei, einem Metzger oder sogar an Schnapsläden vorbeikamen, schwangen sich Rhys und Thomas aus den Sätteln, um irgend etwas aufzutreiben, das Axia noch nicht kannte. Anfangs kauften sie auch für Frances ein, denn sie war doch die Erbin, die der Vater zeit ihres Lebens eingesperrt hatte. Aber wenn sie ihr etwas anboten, hob sie die Brauen, als zweifelte sie am Verstand der beiden Männer. »Wie kann ich jetzt essen? Soll ich mir die Hände schmutzig machen? «
Am zweiten Morgen gaben sie den Versuch auf, ihr Interesse zu erregen. Um so eifriger fütterten sie Axia. Abends belohnte sie die beiden, indem sie die Ereignisse des Tages skizzierte. Ihr Gedächtnis vermochte sich alles einzuprägen, was sie gesehen hatte, in minutiösen Einzelheiten. Da war Rhys, der begierig nach einem Brötchen griff, während die Bäckersfrau mit einem Löffel auf seine Hand schlug. Oder Thomas rätselte an einem Spielzeug herum, vor den Augen eines kleinen Mädchens, das ihn ungeduldig beobachtete, weil er sich so dumm anstellte. Tode fuhr den Wagen, zeigte nur die unversehrte Gesichtshälfte und grinste. Und Roger schnarchte, eine kreisende Fliege über dem offenen Mund.
»Und Jamie? « fragte Thomas leise, während er die Zeichnungen bewunderte.
Nach einem kurzen Blick auf Jamie, der ein paar Schritte entfernt stand, tauchte Axia ihre Feder in die Tinte und begann, ihn zu skizzieren. Bald war das Bild fertig. Es zeigte Frances’ schönes Gesicht, aber ihr Körper bestand aus Goldsäcken. Begierig küßte Jamie die Finger, die aus den Beuteln ragten. Eine Hand, die einen Trauschein festhielt, versteckte er hinter seinem Rücken.
Eigentlich wollte niemand lachen. Es war eine schreckliche Zeichnung, das wußten sie alle. Aber Roger, der Fahrer, fand sie komisch, und als er vor Lachen brüllte, folgten die anderen seinem Beispiel. Genau diesen Augenblick wählte Jamie, um herüberzukommen und den Anlaß der Heiterkeit zu erforschen. Lächelnd reichte Axia ihm das Pergament, und Tode fiel beinahe ins Feuer, als er ihr’s rechtzeitig zu entreißen suchte.
»So seht Ihr mich also«, bemerkte er und gab ihr die Skizze zurück. Ohne ein weiteres Wort war er davongegangen. Während sie jetzt im Gras saß und ihre Freiheit genoß, schien ihr ganzer Körper zu prickeln. Auf ihre Arme gestützt, lehnte sie sich zurück, legte den Kopf in den Nacken, atmete tief die frische, kühle Luft ein. Hier herrschte eine ganz andere Atmosphäre als hinter den Mauern von Maidenhalls Landsitz.
Carpe diem, dachte sie, nutze den Tag. Mit jedem kostbaren Moment verkürzte sich die Zeit der Freiheit. Drei Tage waren bereits vergangen, und sie hatte nur halb England gesehen.
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