Wendekreis des Krebses
dunklen, unvernähten Wunde, diesem Greuelpfuhl, dieser Wiege schwarz wimmelnder Städte, wo die Musik der Ideen in kaltem Fett ertränkt ist, aus erdrosselten Utopien ist ein Hanswurst geboren, ein Wesen zwischen Schönheit und Häßlichkeit, zwischen Licht und Chaos, ein Hanswurst, der, wenn er hinunter und seitwärts blickt, Satan selber ist, und wenn er emporschaut, einen schmalzigen Engel, eine Schnecke mit Flügeln sieht.
Wenn ich hinunterblicke in diesen Spalt, sehe ich ein Gleichheitszeichen, die Welt im Gleichgewicht, eine auf Null reduzierte Welt und nicht den geringsten Restwert. Nicht die Null, auf die Van Norden den Schein seiner Taschenlampe richtete, nicht den leeren Spalt des vorzeitig desillusionierten Mannes, sondern eher eine arabische Null, das Zeichen, dem unendliche mathematische Welten entspringen, den Stützpunkt, der die Sterne und die flüchtigen Träume und die Maschinen, die leichter sind als Luft, und die leichtgewichtigen Glieder und die Sprengstoffe, die sie hervorbrachten, im Gleichgewicht hält. In diesen Spalt möchte ich bis zu den Augen tauchen, sie wild rollen, diese lieben verrückten, metallurgischen Augen. Wenn die Augen rollen, dann werde ich wieder Dostojewskis Worte hören, wie sie Seite um Seite mit genauester Beobachtung und wahnsinnigster Innenschau mit allen Untertönen des Elends bald leicht und humorvoll angeschlagen, bald anschwellend wie ein Orgelton hindröhnen, bis das Herz birst und nichts übrigbleibt als ein blendendes, sengendes Licht, das strahlende Licht, das den befruchtenden Samen der Sterne fortträgt. Die Geschichte der Kunst, die im Blutbad wurzelt.
Wenn ich auf die ausgeleierte Möse einer Hure hinunterblicke, fühle ich die ganze Welt unter mir, eine wankende, stürzende Welt, verbraucht und kahl wie der Schädel eines Aussätzigen. Wenn es einen Menschen gäbe, der wagte, alles zu sagen, was er von dieser Welt gedacht hat, bliebe ihm kein Quadratmeter mehr, um sich darauf zu behaupten. Wenn ein Mensch erscheint, stürzt sich die Welt auf ihn und bricht ihm das Rückgrat. Immer sind zu viele morsche Säulen stehengeblieben, zuviel verfaulte Menschheit, als daß ein Mensch aufblühen könnte. Der Überbau ist eine Lüge, und das Fundament eine riesige, zitternde Angst. Wenn in Abständen von Jahrhunderten ein Mensch mit einem verzweifelten, hungrigen Blick in den Augen auftritt, ein Mensch, der die ganze Welt umwälzen würde, um ein neues Geschlecht zu schaffen, wird die Liebe, die er in die Welt mitbringt, in Bitterkeit verwandelt, und er wird zur Geißel. Wenn wir dann und wann auf Seiten stoßen, die explodieren, Seiten, die verwunden und schmerzen, die einem Seufzer, Tränen und Flüche abringen, dann sollt ihr wissen, daß sie von einem aufrechten Menschen stammen, einem Menschen, dem keine andere Verteidigung übrigbleibt als seine Worte, und seine Worte sind immer stärker als das verlogene, erdrückende Gewicht der Welt, stärker als all die Foltern und Räder, die die Feigen erfinden, um das Wunder der Persönlichkeit zu vernichten. Wenn je ein Mensch wagen würde, alles, was er auf dem Herzen hat, auszusprechen, sein wirkliches Erlebnis, alles, was wirklich seine Wahrheit ist, niederzuschreiben, dann, glaube ich, ginge die Welt in Trümmer, würde in Stücke zersprengt, und kein Gott, kein Zufall, kein Wille könnten je wieder die Stücke, die Atome, die unzerstörbaren Elemente zusammensetzen, aus denen die Welt bestand.
In den vierhundert Jahren, seitdem die letzte überwältigende Seele in Erscheinung trat, der letzte Mensch, der wußte, was Ekstase bedeutet, machte sich ein andauernder Verfall des Menschen in der Kunst, im Denken und Handeln bemerkbar. Die Welt ist ausgepumpt: kein trockener Furz ist mehr übrig. Wer ein verzweifeltes, hungriges Auge hat, kann der die geringste Achtung vor diesen bestehenden Regierungen, Gesetzen, Richtlinien, Grundsätzen, Idealen, Ideen, Totems und Tabus haben? Wenn irgendwer wüßte, was es bedeutete, das Rätsel dessen zu lösen, was man heute als ‹Riß› oder ‹Loch› bezeichnet, wenn ein Mensch das geringste Gefühl für das Mysterium jener Phänomene hätte, die als ‹obszön› abgestempelt sind, würde diese Welt aus den Fugen gehen. Es ist das obszöne Grauen, der trockene, ausgeleierte Aspekt der Dinge, was diese verrückte Zivilisation wie einen Krater aussehen läßt. Es ist dieser gähnende Abgrund des Nichts, den die schöpferischen Geister und die Mütter des Menschengeschlechtes
Weitere Kostenlose Bücher