Wendekreis des Krebses
die ganze Stufenleiter vom Abgrund bis zu den Sternen zurück. Es ist ein Jammer, daß wir nie wieder die Möglichkeit haben, einen Menschen zu sehen, der ins Zentrum des Mysteriums gestellt ist und durch seine Blitze die Tiefe und Unermeßlichkeit der Finsternis für uns erleuchtet.
Heute kenne ich meinen Stammbaum. Ich brauche weder mein Horoskop noch meinen Stammbaum zu Rate zu ziehen. Was in den Sternen oder in meinem Blut geschrieben steht, davon weiß ich nichts. Ich weiß nur, daß ich den mythologischen Begründern des Menschengeschlechtes entspringe. Der Mensch, der die heilige Flasche an seine Lippen hebt, der Verbrecher, der auf dem Marktplatz hinkniet, der Unschuldige, der entdeckt, daß alle Leichname stinken, der Verrückte, der, den Blitz in den Händen, tanzt, der Mönch, der seine Kutte hebt, um auf die Welt zu pissen, der Fanatiker, der Bibliotheken durchwühlt, um den logos zu entdecken – sie alle sind in mir verschmolzen, sie alle sind schuld an meiner Verworrenheit, meiner Ekstase. Wenn ich unmenschlich bin, so darum, weil meine Welt ihre menschlichen Grenzen überbrandet hat, weil menschlich sein mir als eine armselige, traurige, elende Angelegenheit erscheint, die begrenzt ist von den Sinnen, eingeengt von Moralgrundsätzen und Gesetzen, definiert durch Plattheiten und Ismen. Ich gieße den Traubensaft meine Gurgel hinunter und finde Weisheit in ihm, aber meine Weisheit ist nicht der Traube entlehnt, meine Trunkenheit kommt mitnichten vom Wein …
Ich möchte einen Umweg machen über die erhabenen, kahlen Bergketten, wo man vor Durst und Kälte umkommt, diese ‹außerzeitliche› Geschichte, dieses Absolutum von Zeit und Raum, wo es weder Menschen, Tiere noch Pflanzen gibt, wo man verrückt wird vor Einsamkeit, von einer Sprache, die bloß aus Worten besteht, wo alles losgehakt, ausgekuppelt, ausgerenkt aus den Zeiten ist. Ich möchte eine Welt von Männern und Frauen, von Bäumen, die nicht reden (denn es wird schon zuviel in der Welt geredet!), von Flüssen, die einen an Orte führen, nicht Flüsse, die Legende sind, sondern Flüsse, die einen mit anderen Männern und Frauen, mit Architektur, Religion, Pflanzen, Tieren in Berührung bringen, Flüsse, auf denen Boote schwimmen und in denen Menschen ertrinken, nicht ertrinken in Mythen und Märchen, in Büchern und im Staub der Vergangenheit, sondern in Zeit und Raum und Geschichte. Ich möchte Flüsse, die Meere wie Shakespeare und Dante hervorbringen, Flüsse, die nicht im leeren Raum der Vergangenheit austrocknen. Ja, Ozeane! Laßt uns mehr Ozeane haben, neue Ozeane, welche die Vergangenheit wegspülen, Ozeane, die neue geologische Formationen schaffen, neue topographische Ausblicke und seltsame, erschreckende Kontinente, Ozeane, die gleichzeitig vernichten und bewahren, Ozeane, auf denen wir uns einschiffen können zu neuen Entdeckungen, zu neuen Horizonten. Laßt uns mehr Ozeane haben, mehr Umwälzungen, mehr Kriege, mehr Massenvernichtungen. Laßt uns eine Welt von Männern und Frauen mit Dynamos zwischen den Beinen haben, eine Welt voll natürlicher Schwärmerei, Leidenschaft, Handlung, Drama, Träumen, Tollheit, eine Welt, die Ekstase und nicht trockene Fürze hervorbringt. Ich glaube, daß heute ein Buch mehr denn je gesucht sein sollte, wenn es auch nur eine einzige große Seite enthält: wir müssen Bruchstücke, Splitter, Fußnägel zusammensuchen, alles, was kostbares Erz in sich birgt, alles, was Leib und Seele erneuern kann.
Mag sein, daß wir zum Untergang verurteilt sind, daß für uns keine Hoffnung, für keinen von uns Hoffnung besteht, aber wenn dem so ist, dann laßt uns ein letztes, schmerzliches, das Blut gerinnen machendes Geheul anstimmen, ein Hohn-, ein Kriegsgeschrei! Schluß mit dem Jammern! Schluß mit Trauer- und Klageliedern! Schluß mit Lebensbeschreibungen und Geschichtsbüchern, Bibliotheken und Museen! Laßt die Toten ihre Toten auffressen. Laßt uns Lebende einen letzten Totentanz am Rande des Kraters vollführen. Aber einen Tanz!
«Ich liebe alles, was fließt», sagte der große blinde Milton unserer Zeit. Ich dachte heute morgen beim Erwachen mit einem großen lauten Freudenschrei an ihn: ich dachte an seine Flüsse und Bäume und die ganze nächtige Welt, die er erforscht. Ja, sagte ich zu mir, auch ich liebe alles Fließende: Flüsse, Kloaken, Lava, Samen, Blut, Galle, Worte, Aussprüche. Ich liebe das Fruchtwasser, wenn es aus der Embryonalhülle spritzt, ich liebe die Niere mit ihren
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