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Wendekreis des Krebses

Wendekreis des Krebses

Titel: Wendekreis des Krebses Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henry Miller
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glaube ihm, aber ich bin nicht darüber beunruhigt.
    Kann es nicht sein. Tatsächlich muß ich darüber lachen. Und das beleidigt ihn natürlich. Alles verletzt ihn – mein Lachen, mein Hunger, meine Beharrlichkeit, meine Sorglosigkeit, alles . Am einen Tag will er sich erschießen, weil er dieses Drecksloch von Europa nicht mehr ertragen kann; am nächsten spricht er davon, nach Arizona zu gehen, «wo man einem ehrlich ins Gesicht schaut».
    «Tu’s», sagte ich. «Tu was du willst, du Jammerlappen, aber versuche nicht, mein gesundes Auge mit deinem melancholischen Atem zu trüben!»
    Doch das ist’s ja gerade! In Europa gewöhnt man sich ans Nichtstun. Man sitzt auf seinem Hintern und jammert den ganzen Tag. Man wird angesteckt. Man verrottet.
    Im Grunde ist Carl ein Snob, ein aristokratischer, kleiner Pint, der ganz in seinem dementia praecox-Reich lebt. «Ich hasse Paris!» winselt er. «Sieh sie dir an, alle diese stupiden, den ganzen Tag Karten spielenden Menschen! Und diese Schreibereien. Wozu soll das gut sein, Worte aneinanderzureihen? Ich kann Schriftsteller sein, ohne zu schreiben, oder nicht? Was beweist es, wenn ich ein Buch schreibe? Wozu wollen wir denn überhaupt Bücher? Es gibt schon viel zu viele Bücher …»
    Du lieber Himmel, die Töne kenne ich – das war vor Jahren und Jahren. Ich habe meine melancholische Jugend hinter mir. Ich gebe keinen Pfifferling mehr für das, was hinter mir liegt oder vor mir. Ich bin gesund. Unheilbar gesund. Kein Bedauern, keine Reue. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Die Gegenwart genügt mir. Tag für Tag. Heute! Le bel aujourd’ hui!
    Er hat einen freien Tag in der Woche, Carl, und an diesem Tag fühlt er sich elender, wenn man sich das vorstellen kann, als an jedem anderen Wochentag. Wenn er angeblich auch das Essen verabscheut, so scheint doch die einzige Art, wie er sich an seinem freien Tag vergnügt, darin zu bestehen, daß er eine üppige Mahlzeit bestellt. Vielleicht tut er es mir zuliebe, ich weiß es nicht, und ich frage nicht. Wenn er der Liste seiner Laster Selbstquälerei hinzufügen will, mag er – mir soll’s recht sein. Jedenfalls am letzten Dienstag, nachdem er alles, was er besaß, für einen üppigen Schmaus ausgegeben hatte, steuerte er mich zum Dôme , dem letzten Ort der Welt, den ich an meinem freien Tag aufsuchen würde. Aber man wird hier nicht nur fügsam – man wird nachlässig.
    An der Dôme-Bar steht Marlowe, voll bis an den Kragen. War die letzten fünf Tage hindurch auf dem Bummel, wie er es bezeichnet. Das heißt, auf einer fortgesetzten Sauftour, einer Wanderung, Tag und Nacht, ohne Unterbrechung, von einer Bar zur anderen, und schließlich ein Abstecher ins Amerikanische Krankenhaus. Marlowes knochiges, ausgemergeltes Gesicht ist nur noch ein Schädel mit zwei tiefen Augenhöhlen, in denen zwei tote Mollusken begraben sind. Sein Rücken ist mit Sägemehl beschmutzt – er hat gerade im Klosett ein Schläfchen gemacht. In seiner Manteltasche stecken Druckfahnen für die nächste Nummer seiner Zeitschrift. Er war anscheinend mit den Korrekturfahnen auf dem Weg zum Drucker, als ihn jemand zu einem Gläschen verführte. Er spricht darüber, als sei es Monate her. Er zieht die Fahnen heraus und breitet sie auf dem Bartisch aus; sie sind voller Kaffeeflecken und angetrockneter Spucke. Er versucht, ein Gedicht vorzulesen, das er in griechisch geschrieben hat, aber die Fahnen sind nicht zu entziffern. Dann beschließt er, eine Rede auf französisch zu halten, aber der gérant gebietet dem Einhalt. Marlowe ist gekränkt: sein einziger Ehrgeiz ist, ein Französisch zu sprechen, das sogar der garçon verstehen kann. Im Altfranzösischen ist er ein Meister; von den Surrealisten hat er vorzügliche Übertragungen gemacht; aber eine einfache Sache zu sagen, wie: «Zum Teufel, hau doch ab, du alter Hurenbock!» – das bringt er nicht fertig. Niemand versteht Marlowes Französisch, nicht einmal die Huren. Es ist schwierig genug, sein Englisch zu verstehen, wenn er blau ist. Er blubbert und spuckt wie ein chronischer Stotterer … seine Sätze haben keinen Zusammenhang. « Zahl du! », das ist das einzige, was er deutlich herausbringt.
    Sogar wenn er bis zum Stehkragen voll ist, warnt ein sicherer Selbsterhaltungstrieb Marlowe immer, wenn es Zeit ist, zu handeln. Ist er irgendwie im Zweifel, wer die Getränke bezahlen wird, so wird er garantiert einen Trick anwenden. Gewöhnlich besteht er darin, daß er so tut, als würde er blind. Carl

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