Wendekreis des Krebses
in die Adern spritzte. Die Monotonie blauer Kittel und gelber Gesichter, Millionen und Millionen, die vom Hunger ausgehöhlt und von Krankheit zerfressen waren, sich von Ratten, Hunden und Wurzeln ernährten, das Gras vom Erdboden abnagten und ihre Kinder auffraßen. Man konnte sich schwer vorstellen, daß der Körper dieses Mannes einmal eine Masse von Schwären gewesen, daß er wie ein Aussätziger gemieden worden war. Seine Stimme war so ruhig und sanft, es war, als sei seine Seele durch das Leid, das er durchgemacht hatte, geläutert worden. Während er die Hand nach seinem Glas ausstreckte, wurde sein Gesicht immer weicher, und seine Worte schienen mich richtig zu streicheln. Und die ganze Zeit hing China über uns wie das Schicksal selber. Ein verfaulendes, wie ein riesiger Dinosaurier in Staub zerfallendes China, das doch bis zu allerletzt die Schönheit, den Zauber, das Geheimnis und die Grausamkeit seiner ehrwürdigen Legenden bewahrte.
Ich vermochte seiner Geschichte nicht mehr zu folgen. Meine Gedanken waren zu einem vierten Juli zurückgekehrt, als ich mein erstes Päckchen Knallfrösche kaufte und mit ihm die langen Streifen Zündschwamm, die so leicht abbrechen, den Zündschwamm, auf den man bläst, um eine gute, rote Glut zu erzielen, den Zündschwamm, dessen Geruch noch tagelang den Fingern anhaftet und einen von seltsamen Dingen träumen läßt. Am vierten Juli sind die Straßen und Plätze dicht übersät mit hellrotem Papier, das bedruckt ist mit schwarzen und goldenen Mustern, und überall treiben sich winzige Feuerwerkskörper mit den merkwürdigsten Eingeweiden herum. Päckchen und Päckchen, alle mit dünnen, flachen, kleinen Darmsaiten von der Farbe menschlichen Gehirns zusammengebunden. Den ganzen Tag riecht es nach Pulver und Zündschwamm, und der Goldstaub von den hellroten Umhüllungen klebt an den Fingern. Man denkt nie an China, aber es ist die ganze Zeit da, an deinen Fingerspitzen und kitzelt einen in der Nase. Und lange nachher, wenn man fast vergessen hat, wie ein Knallfrosch riecht, wacht man eines Tages auf, im Halse gewürgt von Goldpapier, und die zerbröckelten Stückchen Zucker wehen einem wieder ihren beizenden Geruch zu, und die hellroten Umhüllungen wecken in einem das Heimweh nach einem Volk und einer Erde, die man nie gekannt hat, die einem aber im Blute stecken, geheimnisvoll wie das Gefühl für Zeit und Raum, ein flüchtiger, ewiger Wert, den man sich mit dem Älterwerden immer mehr und mehr zuwendet, den man vergeblich mit dem Verstand aufzunehmen versucht, denn in allem Chinesischen steckt Weisheit und Geheimnis, und man kann es nie mit beiden Händen oder mit dem Verstand greifen, aber man muß es mit den Fingerspitzen aufnehmen, halten und langsam in die Adern eindringen lassen.
Ein paar Wochen später nahmen Fillmore und ich, auf eine dringliche Einladung von Collins, der nach Le Havre zurückgekehrt war, eines Morgens den Zug, um das Wochenende mit ihm zu verbringen. Zum erstenmal seit meinem Hiersein hatte ich Paris verlassen. Wir ließen es uns gutgehen, indem wir die ganze Fahrt bis zur Küste Anjou tranken. Collins hatte uns die Adresse einer Bar gegeben, wo wir uns treffen wollten. Das Lokal hieß Jimmie’s Bar , und jedermann in Le Havre kannte es.
Wir stiegen am Bahnhof in einen offenen Landauer und fuhren in flottem Trab zu unserem Treffpunkt. Wir hatten noch eine halbe Flasche Anjou übrig, die wir während der Fahrt auspichelten. Le Havre sah heiter und sonnig aus. Die Luft war gesättigt von dem starken Salzgeschmack, der fast Heimweh nach New York in uns weckte. Überall ragten Masten auf und drängten sich die Schiffsrümpfe, fröhlich wehten die Flaggen, große, offene Plätze taten sich auf und Cafés mit hohen Decken, wie man sie nur noch in der Provinz findet. Sofort ein liebenswürdiger Eindruck; die Stadt hieß uns mit offenen Armen willkommen. Ehe wir die Bar erreichten, sahen wir Collins eilig die Straße herunterkommen, zweifellos auf dem Weg zum Bahnhof, wie immer ein wenig verspätet. Fillmore schlug sofort einen Pernod vor. Wir klopften uns alle gegenseitig auf den Rücken, lachten und spuckten, bereits von der Sonne und der salzigen Meeresluft trunken. Collins wollte zuerst von einem Pernod nichts wissen. Er habe einen kleinen Kavaliersschnupfen, berichtete er uns. Nichts Ernstliches, ‹eine Überreizung› höchstwahrscheinlich. Er zeigte uns eine Flasche, die er in der Tasche hatte – ‹Venetienne› stand darauf, wenn ich mich
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