Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
und verlieh dem Schatten eine klar erkennbare Kontur. Runde gelbe Augen leuchteten auf. „Die Wölfe kommen“, zischte Chris. Sie blickte sich um. Überall im Garten krochen geduckte Schatten auf die feiernden Menschen zu.
„Oh, verdammt!“ sagte Jonas. „Warum schießen diese Idioten nicht? Jetzt wäre doch noch Gelegenheit dazu...“ Er sprang auf und rief laut: „Achtung! Die Wölfe! Die Wölfe sind im Garten! Alles ins Haus! Türen und Fenster zumachen!“
Doch da sah Chris, daß dieser Fluchtweg bereits versperrt war. Zwei Wölfe standen vor der Verandatür und knurrten laut. Die anderen siebzehn bildeten einen Kreis, der sich immer enger um die Festgäste schloß. Alle Wölfe knurrten jetzt drohend. Die Band hatte zu spielen aufgehört. Die Tanzpaare auf der Terrasse lösten sich voneinander und starrten mit hängenden Armen auf die geduckt näher kommenden Wölfe. Die Leute an den Biertischen blieben entweder starr vor Schreck sitzen oder sprangen auf und warfen dabei Gläser und Geschirr um. Doch es gab keinen Fluchtweg. Ringsherum lauerten die Wölfe, starrten die Menschen wachsam an, knurrten und bleckten die Zähne.
Plötzlich lösten sich aus diesem bedrohlichen Ring zwei Tiere und drangen in das Innere des Kreises vor. Chris glaubte zu erkennen, daß es sich bei ihnen um Zora und Hektor handelte. „Henn und der Landrat!“ stieß Jonas hervor und wollte hinüber zu Henn laufen, der wie angewurzelt an der Biertheke stand, offenbar um den Abgeordneten zu warnen oder zu beschützen. Aber Chris hielt ihn mit aller Kraft fest. „Bleib hier“, sagte sie. „Ich will nicht, daß dir was passiert! Gegen zwei kampfbereite Wölfe kannst du nichts ausrichten!“ Erst stemmte er sich gegen Chris‘ Umklammerung, entspannte sich dann aber wieder. „Bitte“, sagte sie leise, „bleib hier bei mir.“
„Verdammt“, murmelte er fassungslos. „Da sind vierzig Mann draußen. Schwer bewaffnet. Warum tun die denn nichts?“
Am Zittern ihres Fells und den sich unruhig bewegenden Ohren merkte Chris, unter welcher Anspannung die Wölfe standen. Hier in diesen hellerleuchteten Garten einzudringen, wo sich über fünfzig Menschen aufhielten, mußte ihnen schreckliche Angst machen, und dennoch gehorchten sie der Macht des Bärenwesens.
Als Zora immer weiter auf ihn zuschlich, ließ Henn zitternd sein Bierglas auf den Rasen fallen. Das Bier versickerte im Boden. Der Landrat saß an einem der Biertische. Hektor näherte sich ihm knurrend. Die Leute sprangen auf und wichen zurück. Als klar wurde, daß der Wolf es offenbar auf den Landrat abgesehen hatte, rückten die anderen eilig von ihm ab, bis der kleine, dicke Mann mit den runden Brillengläsern allein mit dem Rücken zu einem umgekippten Tisch stand.
Beide Wölfe sprangen gleichzeitig. Zora ging Henn an die Kehle, und Hektors Zähne gruben sich in den fleischigen Hals des Landrats. In diesem Moment rief eine dröhnende Stimme: „Menschen, die ihr auf diesem Land lebt! Hört gut zu!“
Gablenz stand mit ausgebreiteten Armen auf der Mauer, die den Garten zur Straße hin begrenzte. „Das vergossene Blut soll euch an eure Pflichten erinnern!“ Seine Stimme war unmenschlich laut, donnernd wie das Brausen eines Orkans. „Für dieses Mal ist das Strafgericht beendet. Kehrt um und findet zum natürlichen Weg zurück! Liebt und achtet das Land! Ehrt es wie die Menschen in den alten Tagen! Euch wird noch eine letzte, eine allerletzte Chance gegeben. Nutzt sie gut! Sonst werdet ihr alle sterben, und euer Tod wird qualvoller und schrecklicher sein als bei diesen beiden dort, die von den Wölfen hinab in die Dunkelheit geschickt wurden.“ Henn und der Landrat lagen reglos in ihrem Blut. Ihre Körper zuckten nicht mehr. Zora und Hektor kehrten in den Kreis der Wölfe zurück. Chris hörte das Trappeln schwerer Stiefel. Männer in Kampfmontur tauchten aus der Dunkelheit auf und richteten Maschinenpistolen auf Gablenz, der das entweder gar nicht wahrnahm oder es bewußt ignorierte.
„Nutzt eure letzte Chance!“ rief er noch einmal mit so gewaltiger Stimme, daß die Menschen in der Nähe der Mauer sich wimmernd die Ohren zuhielten. „Sonst sind eure Tage gezählt!“ Die Worte sangen förmlich in Chris‘ Trommelfellen. Ein mächtiger Windstoß fegte durch den Garten, warf Stühle um und heulte in den Markisen. Dann war es für einen Moment vollkommen still.
Chris sah, wie die Gestalten Kettlers und dieses hageren, grauhaarigen Mannes sich aus dem Schatten des
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