Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
verschwand hinten zwischen den Regalen. Nach kurzer Zeit tauchte er mit einer sehr flachen Aktenmappe wieder auf, die er Susanne mit der Bemerkung: „Ziemlich dünn für deine Verhältnisse“ aushändigte.
Susanne legte die Mappe auf die Theke und blätterte darin. Sie spürte, wie die Wut von damals wieder in ihr hochstieg. Einvernahme Dr. Alexander Gablenz. Einvernahme des Wissenschaftlichen Direktors des GENOTEC-Institutes, Professor Herbert Schlei. Gablenz war höflich, aber auch ziemlich überheblich aufgetreten, schien sich selbst für ein unfehlbares wissenschaftliches Genie zu halten. Die beiden jungen Doktoranden, Scholl und Conrad, Gablenz‘ wissenschaftliche Assistenten, seien sich der Risiken durchaus bewußt gewesen und hätten vor dem Experiment die entsprechenden Einverständniserklärungen unterschrieben. Im Interesse des wissenschaftlichen Fortschritts müßten mitunter persönliche Risiken eingegangen werden.
Aber befreite das Gablenz von seiner Verantwortung? Susanne war sicher gewesen, bei der Staatsanwaltschaft eine Anklage gegen ihn durchsetzen zu können. Einvernahme Eltern des Roland Scholl. Einvernahme Eltern des Michael Conrad. Roland Scholl in der Psychiatrie, für immer, wie es schien. Nicht vernehmungsfähig. Michael Conrad tot. Beide erst siebenundzwanzig.
Die Verzweiflung in den Gesichtern ihrer Eltern. Die Wut auf Gablenz, gegen den sie Anzeige erstatteten. Das Entsetzen von Conrads Vater darüber, wie sein Sohn sich in den drei Wochen zwischen dem Drogenexperiment und dem tödlichen Autounfall psychisch verändert hatte. Seine etwas wirr klingenden Andeutungen, Gablenz habe gar nicht, wie o ffi ziell behauptet, an der Entwicklung neuer Psychopharmaka gearbeitet, sondern an geheimen militärischen Forschungen. Das habe ihm sein Sohn selbst erzählt, kurz vor seinem Tod. Sein hilfloser, ohnmächtiger Zorn, als er den Verdacht äußerte, bei dem Unfall sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen, „sie“ - die GENOTEC-Leute oder irgendwelche mysteriösen Militärs - hätten seinen Sohn beseitigen wollen, weil er wegen seiner psychischen Verfassung zum Risiko geworden war.
Susanne hatte mit den Kollegen gesprochen, die den Unfallhergang aufgenommen hatten. Mit den Zeugen. Der Verdacht des Vaters war ihr gar nicht mehr abwegig erschienen. Es gab bei diesem Unfall tatsächlich einige Merkwürdigkeiten. Doch dann hatte ihr Antweiler plötzlich, sie hatte gerade eine erneute gründliche Untersuchung des Unfallwagens angeordnet, den Fall entzogen. Einfach so. Das BKA hatte sich eingeschaltet. Der Unfallwagen wurde, ohne in Köln noch einmal untersucht worden zu sein, nach Wiesbaden abtransportiert. Schluß. Herrgott, war sie damals wütend gewesen! Und aus Wiesbaden war nichts mehr gekommen. Keine Kurzinformation über die weiteren Ermittlungsergebnisse. Nichts. Sie hatte ein paarmal deswegen bei Antweiler nachgefragt,
doch der hatte nur die Augen verdreht und gestöhnt, sie möge die Sache doch endlich vergessen.
Susanne stutzte plötzlich. Sie blätterte die Akte noch einmal von Anfang an durch. Anzeigenaufnahme. Einvernahme Gablenz, Schlei, Eltern Scholl, Eltern Conrad, Korrespondenz mit der Staatsanwaltschaft. Sonst nichts.
„Was ist?“ fragte Hengstenberg.
„Da fehlt was“, sagte Susanne ungläubig. „Ungefähr zehn Seiten. Ein ausführlicher Bericht über einen Autounfall!“
„Das gibt‘s doch nicht!“
„Hat irgend jemand die Akte angefordert, nachdem ich sie bei dir abgelegt hatte?“
„Moment“, sagte Hengstenberg. „Ich schau mal nach.“ Er tippte etwas in den Computer, starrte einen Moment wartend auf den Bildschirm. Dann schüttelte er den Kopf.
„Niemand. Bist du sicher, daß dieser Unfallbericht bei der Akte war?“
„Klar“, erwiderte Susanne. „Ich weiß genau, daß ich ihn eingeheftet habe.“ Sie hatte in dem Bericht alle Indizien, die auf eine Fremdeinwirkung bei Conrads Unfall hindeuteten, ausführlich dargestellt. Sie merkte, wie sich ihr Magen zusammenzog und ihre Handflächen feucht wurden. Es gab nur eine Erklärung. Jemand war heimlich ins Archiv eingedrungen und hatte den Bericht verschwinden lassen. Daß sich das BKA damals ausgerechnet in dem Moment einschaltete, als sie Hinweise darauf entdeckt hatte, daß Michael Conrad möglicherweise ermordet worden war, schien ihr im nachhinein immer noch merkwürdig. Und die Oberstaatsanwaltschaft hatte von diesem Augenblick an schlagartig jedes Interesse an der Sache verloren. Das nagende
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