Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
Unbehagen, das sie damals empfunden hattte, kehrte zurück, stärker denn je.
„Wahnsinn“, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. „Offenbar gibt‘s hier im Archiv Aktenläuse, die mit Vorliebe Unfallberichte fressen. Vielleicht solltet ihr mal einen Kammerjäger kommen lassen.“
Hengstenberg war die Sache sichtlich unangenehm. Das Archiv war seit fast zwanzig Jahren sein Allerheiligstes.
„Soll ich eine Verlustmeldung aufsetzen?“ fragte er unglücklich.
Susanne schüttelte den Kopf. „Nein, laß mal.“ Sie nahm die Akte GENOTEC/Gablenz, deren wichtigster Bestandteil fehlte, und ging damit zu ihrem Büro zurück. Ich glaube, jetzt brauche ich wirklich erst einmal ein Stück Käsekuchen, dachte sie.
Chris war von der Kreisverwaltung angewiesen worden, den Park bis auf weiteres geschlossen zu halten. Man hatte sich auf die offizielle Sprachregelung geeinigt, es seien zwei oder drei Wölfe durch eine schadhafte Stelle im Zaun entkommen, es bestehe aber keine Gefahr für die Bevölkerung. Der Park bleibe einstweilen wegen Reparaturarbeiten geschlossen. Ein ziemlich aufdringlicher Zeitungsreporter rief an und löcherte Chris mit Fragen zu den entlaufenen Wölfen, aber sie blieb standhaft und verwies ihn an die Pressestelle der Kreisverwaltung.
Hinterher lehnte sie sich mit einem Seufzer in Dr. Wegmeiers Schreibtischstuhl zurück. Sie hatte Kopfschmerzen. Seit sie wieder in der ruhigen Eifel lebte, hatte sie keine Beschwerden mehr gehabt. Aber momentan hatte sie ja wirklich Unruhe genug.
Sie massierte langsam mit den Fingerspitzen ihre Schläfen. Der Landrat war gestern abend ziemlich entgeistert gewesen, als sie ihm mitteilte, das ganze Rudel sei entlaufen. Aber dann hatte er ihr versprochen, sich um die Presse zu kümmern. Daß so wenig Aufregung wie möglich in der Bevölkerung entstand, lag auch in Chris‘ Interesse. Sie hatte nämlich Angst, daß man fordern würde, das Rudel abzuschießen.
Chris erschien es immer noch unbegreiflich, daß die Wölfe angegri ff en hatten. Wölfe waren dem Menschen gegenüber extrem scheu, was nach der jahrhundertelangen Verfolgung keineswegs erstaunlich war. Es gab keinen einzigen dokumentierten Fall, wo Wölfe draußen in der freien Natur Menschen angegri ff en und verletzt hätten. Diese Dinge hatten für sie bisher in den Bereich der Schauermärchen gehört. In Kanada wußten die Menschen, die in der Wildnis lebten, daß man sich vor Grizzlybären in acht nehmen mußte, weil so ein Grizzly mitunter ziemlich unberechenbar und gefährlich sein konnte, aber niemand fürchtete sich dort vor Wölfen, obwohl es sie noch in großer Zahl gab.
Was war mit den Tieren geschehen? Es mußte eine Erklärung für ihre völlig außergewöhnliche Aggressivität geben. Und warum hatten sie so gezielt Jochen Honadel attackiert? Lag es daran, daß er etwas abseits von den anderen gestanden hatte?
Das sanfte Massieren mit den Fingern brachte keine Linderung - im Gegenteil, der drückende Kopfschmerz verschlimmerte sich weiter. Ihr wurde ein wenig flau, und vor ihren Augen flimmerte es. Seltsam, unter Kreislaufproblemen litt sie sonst eigentlich nie.
Das Telefon klingelte wieder. Hoffentlich nicht noch ein Reporter. Erst wollte sie einfach nicht abheben, nahm dann aber doch den Hörer und meldete sich. Es war Jonas.
„Alles in Ordnung bei dir?“ fragte er. „Deine Stimme klingt ein wenig ... müde.“
„Ach, nichts“, sagte sie rasch. „Hab etwas Kopfschmerzen. Kein Wunder, bei der ganzen Aufregung.“ Mit der freien Hand massierte sie ihre Stirn. Das Flimmern wurde stärker.
„Im Präsidium in Euskirchen sind sie durch den Angriff der Wölfe gestern inzwischen doch ein wenig wachgerüttelt worden“, berichtete Jonas. „Ich soll bald Verstärkung erhalten, und jetzt schicken sie erst mal einen Hubschrauber, mit dem wir die Gegend nach dem Rudel absuchen können. Ich habe ihn zum Park beordert und fahre jetzt zu dir raus, um mit dir gemeinsam von oben die Lage zu erkunden.“
Fliegen? Chris flog gar nicht gerne. Das war einer der negativen Aspekte ihrer Kanadazeit gewesen: Die Notwendigkeit, fliegen zu müssen. „Okay“, hörte sie sich matt sagen. „Wann kommt der Hubschrauber?“
„In einer Viertelstunde. Er landet auf dem Parkplatz. Wir tre ff en uns dort, einverstanden?“
Mit einem ziemlich gequälten Seufzer sagte sie ja. Ausgerechnet ein Hubschrauber. Damit war sie noch nie geflogen.
Sie hatte eben den Telefonhörer aus der Hand gelegt, als aus dem
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