Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
Chris konnte ihre schönen, schlanken Köpfe mit den gelb funkelnden Augen deutlich erkennen. Dann sprangen sie seitwärts ins Unterholz davon und waren unter dem dichten Blätterdach der Buchen nicht mehr zu sehen. Es mußte herrlich für die Tiere sein, sich so frei fühlen zu können wie die Wölfe in Kanada - nicht länger hinter hohen Zäunen gefangen. Wenigstens
vorübergehend.
„Vielleicht ist der Mann ja auch hier irgendwo!“ rief Jonas ins Mikrophon. Der Pilot zog den Hubschrauber etwas höher.
„Da vorn steht ein Wagen!“ erklang die Stimme des Piloten im Kopfhörer.
Jetzt sah Chris den Wagen auch. Es war eine große,
silberne Limousine, die auf einem der Wirtschaftswege neben einem Holzstapel parkte. Der Pilot ging in den Schwebeflug über und senkte den Hubschrauber langsam nach unten.
„Ein 5er-BMW“, sagte Jonas. „Mit Kölner Kennzeichen.“
Soweit Chris erkennen konnte, saß niemand im Wagen, und auch in der Nähe war kein Mensch zu sehen.
„Landen kann ich hier nicht“, sagte der Pilot.
„Okay. Ich habe mir das Kennzeichen gemerkt. Machen Sie mir eine Verbindung zu Schöntges.“
Während Jonas Schöntges, der in der Buchfelder Polizeiwache am Funk saß, das Kennzeichen des BMW durchgab, steuerte der Pilot die Schonung beim Reiherbruch an, in der Nähe der alten Fischteiche, zu denen Chris in diesem Sommer mehrmals spaziert war, um Graureiher zu beobachten. Von diesen Vögeln war sie schon als Kind fasziniert gewesen. In ihrer unbewegten, silbernen Schönheit wirkten sie wie Geschöpfe aus einer Traumwelt.
Chris hörte, wie Schöntges über Kopfhörer durchgab, der Wagen habe eine verschlüsselte Nummer. Jonas machte ein erstauntes Gesicht. „Was bedeutet das?“ fragte sie ihn. „Das heißt, daß es ein Wagen des Militärgeheimdienstes ist, auf dessen Daten wir keinen unmittelbaren Zugri ff haben. Seltsam. Die fahren sonst biedere Opel, keine teuren BMW Muß eine besonders gut ausgerüstete Sondereinheit sein. Aber was suchen die hier bei uns im Wald?“
Als der Hubschrauber ein zweites Mal die Schonung überflog, sah Chris am Waldrand, fast im Schatten der Bäume verborgen, etwas Dunkles liegen. „Was ist das
da?“ Sie zeigte es Jonas, der den Piloten anwies, tiefer zu gehen.
Die Schonung, in der junge, mit Draht vor Wildverbiß geschützte Buchen standen, wurde größer. Chris spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Was dort lag, war ein Mensch.
Er trug einen dunklen Anzug, und da war Blut, sehr viel Blut. Sie schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als der Hubschrauber sanft neben der Schonung landete. Jonas hatte seine Kopfhörer in die Halterung unter der Plexiglaskuppel gehängt. Er berührte Chris sanft am Arm. Als sie ihre ebenfalls abgenommen hatte, sagte er über das Pfeifen der Turbine hinweg: „Ich geh raus und schau ihn mir an. Bleib du hier.“
Chris schüttelte den Kopf. Nein. Ausgeschlossen. „Ich komme mit. Ich bin für die Wölfe verantwortlich. Ich muß wissen, was hier vorgeht.“
Jonas zog seine Dienstpistole. „Okay. Dann bleib dicht hinter mir.“ Zum Piloten sagte er: „Lassen Sie die Turbine laufen, damit wir im Notfall sofort abhauen können.“
Ein friedlicher Spätsommertag im Wald. Nachdem die gestrigen Regenwolken in der Nacht weitergezogen waren, brannte die Sonne am späten Vormittag schon ziemlich heiß. Ein schöner Tag, um es sich im Schatten unter hohen Bäumen bequem zu machen, zu picknicken, ein gutes Buch zu lesen, Vögel zu beobachten, schläfrig hinauf in den Himmel zu blicken.
Chris mußte sich zwingen, auf den Toten zu schauen, dem sie sich vorsichtig näherten, während Jonas, die Hand an der Wa ff e, wachsam die Umgebung be-obachtete. Fliegen krabbelten über das Gesicht und die Hände des Mannes. Er trug einen dunklen, für das Wetter eigentlich zu warmen Anzug. Neben ihm lag eine Pistole, die er o ff enbar in der Hand gehalten hatte.
Eine klaffende Wunde an seiner Kehle, wo scharfe Reißzähne sich festgekrallt hatten. O ff enbar hatten diese Zähne seine Halsschlagader durchtrennt, so daß das Blut in einer großen Fontäne hervorgesprudelt sein mußte. Daher die rote Pfütze, in der er lag. Chris‘ Mageninhalt drängte nach oben, sie krümmte sich und würgte.
Als sie sich wieder aufrichtete und sich mit ihrem Taschentuch den Mund abwischte, sah sie Jonas mit bleichem, verkni ff enem Gesicht die Jackentaschen des Toten durchsuchen. Mit einer Brieftasche in der Hand stand er auf. Chris stellte
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