Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
sich neben ihn. Sie fühlte sich zittrig, mit Knien aus Gummi, aber der Anblick war jetzt zu ertragen, der Schock verging.
Chris zwang sich, das Gesicht über der durchgebissenen Kehle genauer zu betrachten. „Ich kenne ihn“, sagte sie langsam. Ihre Stimme war heiser, und sie hatte den widerlichen Geschmack von Erbrochenem im Mund. „Das ist der, der mir im Park diese neugierigen Fragen gestellt hat.“
Jonas warf ihr einen erstaunten Blick zu, dann entdeckte er in der Brieftasche einen Ausweis und klappte ihn auf.
„Der Typ ist vom Geheimdienst“, sagte er. „Ein Oberleutnant Lansky vom MSD. Seltsam. Ich kenne den MAD, den Militärischen Abschirmdienst. Aber MSD? Nie gehört!“ Dann legte er Chris die Hand auf die Schulter und sah sie besorgt an. „He, du bist kreidebleich. Geht es wieder?“
„Er ist auch der Mann aus ... meiner Vision. Ich bin mir sicher, daß er es ist.“
Jonas nickte. „Ja. Das hatte ich vermutet. Aber das brauchen nur wir beide zu wissen. Ich werde es nicht in deine Zeugenaussage aufnehmen. Okay?“
Jonas ging noch einmal zu dem Toten, bückte sich, legte prüfend die Hand an dessen Wange. Dann bewegte er Finger und Arm der Leiche ein wenig. „Der Körper ist noch warm“, sagte er. „Und die Leichenstarre hat noch nicht eingesetzt. Er kann kaum länger als eine Stunde tot sein.“
Mein Gott, dachte Chris schaudernd, womöglich ist es genau in dem Moment geschehen, als ich die
Vision hatte.
Als sie zum Hubschrauber zurückgingen, schaute sich Jonas wachsam um, aber die Lichtung lag verlassen und still. Während er über Funk mit dem Polizeipräsidium in Euskirchen sprach, lehnte Chris matt und immer noch ziemlich zittrig am Rumpf der Maschine.
Tötungsbiß. Tötungsbiß in die Kehle. Die Jagdbeute wurde angesprungen, mit den Zähnen am Hals festgehalten und zu Boden gerissen. Sie war sicher, daß ein Wolf diesen Mann getötet hatte. Aber verstehen konnte sie es trotzdem nicht. Der Mensch war keine Jagdbeute für Wölfe. Er gehörte nicht zu ihren natürlichen Beutetieren. Menschen lösten bei Wölfen keinen Jagdtrieb aus wie Rehe, Hirsche oder Karibus. Und wenn sie diesen Mann tatsächlich gehetzt und getötet hatten wie eine Jagdbeute, was aller wissenschaftlichen Erkenntnis über das Verhalten von Wölfen widersprach, wieso hatten sie ihn dann anschließend nicht gefressen?
Wölfe jagten nicht zum Vergnügen wie menschliche Freizeitjäger, sondern aus Hunger. Wenn sie nicht hungrig waren, vergeudeten sie keine Energie für anstrengende Hetzjagden. Waren sie gestört worden, ehe sie sich in Ruhe über ihre Beute hermachen konnten? Aber selbst dann hätten sie wenigstens ein paar Brocken Fleisch aus dem Körper gerissen.
Ein Graureiher strich mit langsamen, majestätischen Flügelschlägen über die Lichtung und flog zu den Fischteichen. Chris klammerte sich geradezu an seinen Anblick, versuchte darin Halt zu finden. Vielleicht war der Vogel ja ein kleines Ho ff nungszeichen, das die Natur ihr inmitten all dieser schrecklichen, unerklärlichen Ereignisse senden wollte. Sie atmete tief durch. Wenn Dinge passieren, bei denen du glaubst, dir würde der Boden unter den Füßen weggezogen, mußt du tief hinunter in den Bauch atmen, hatte Silver Bear ihr einmal geraten. Stell dir vor, daß die Erde dich trägt, denn das tut sie immer. Und denke daran, daß du nicht allein bist.
Als sie sich zu Jonas in den Hubschrauber setzte, zitterten ihre Muskeln nicht mehr, und ihre Hände fühlten sich wieder warm an.
5. KAPITEL
S usanne Wendland saß an ihrem neuen, Möllers altem Schreibtisch, rauchte und starrte nachdenklich zum o ff enen Fenster, durch das Straßenlärm und stickige Luft hereindrangen. Über der Stadt hing eine flimmernde, von der Mittagssonne aufgeheizte Dunstglocke.
GENOTEC/Gablenz. Die unvollständige Akte lag vor ihr auf dem Schreibtisch. Diese schrille, nervöse Stimme des anonymen Anrufers...
Schaudernd erinnerte sie sich an ihren letzten Besuch im Institut vor gut einem Jahr. Sie hatte Schlei und Gablenz mit dem Verdacht von Conrads Vater konfrontiert, bei Michael Conrads Unfall sei es nicht mit rechten Dingen zugegangen. Schlei war kreidebleich geworden, doch Gablenz hatte nur kurz die Brauen gehoben und gesagt: „Daß der Tod seines Sohnes eine starke seelische Belastung für den Mann darstellt, ist verständlich. Vermutlich trübt das seine Objektivität ein wenig.“
„Wie ist es mit der Behauptung von Herrn Conrad, hier im Institut fänden geheime
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