Wendland & Adrian 01 - Schattenwölfe
doch nicht sagen, nur weil ich als Kind oft in dem Wald gespielt habe, bin ich gegen das Projekt. Wenn die Fachleute mir sagen, das bringt so und so viele Arbeitsplätze und verbessert die Infrastruktur und steigert die Gewerbesteuereinnahmen, dann muß ich das doch befürworten, oder etwa nicht? Was würdet ihr denn an meiner Stelle tun?“
„Auf das Herz hören.“ Chris gab diese Antwort ganz schnell und spontan, ohne langes Nachdenken, und war selbst überrascht, wie sicher ihre Worte klangen. „Wenn dein Herz dir sagt, daß es nicht gut ist, diese Autobahn zu bauen, dann solltest du auf dein Herz hören. So würde ich es jedenfalls machen.“ Ich lerne wieder, es so zu machen, dachte sie. Vor ein, zwei Jahren hätte ich diese Antwort als genauso naiv abgetan wie Honadel jetzt vermutlich.
„Mich vor den Gemeinderat stellen und sagen: Mein Herz rät mir ...“ Honadel seufzte. „Ach, Chris, du bist eine Träumerin. Das warst du immer schon.“ Er sagte es nicht vorwurfsvoll, sondern es klang eher wehmütig. Irgendwann ist er auch einmal ein kleines Kind mit Träumen gewesen, dachte Chris.
Nach erneutem längerem, nachdenklichen Schweigen gähnte Jonas geräuschvoll. „Oh, Leute“, sagte er. „Bei solchen politischen Diskussionen bekomme ich entweder Kopfschmerzen, oder ich werde furchtbar schläfrig.“ Er richtete sich im Sessel auf.
Draußen hatten sich die Wolken weitgehend verzogen. Chris konnte über den Dächern Sterne funkeln sehen.
„Was ich noch fragen wollte: Wie steht‘s mit deiner Verstärkung?“ erkundigte sich Honadel.
Jonas stand auf und reckte sich. „Habe vorhin mit meinem Chef in Euskirchen telefoniert. Die Sache ist offenbar so heiß, daß sich das BKA damit befaßt. Die schicken morgen einen Spezialisten, einen Kriminalrat, mit einer Sondereinheit. Klingt ziemlich mysteriös, wenn du mich fragst. Aber was ist an dieser Sache nicht mysteriös?“ Er zuckte die Achseln.
„Na, wenigstens tut sich endlich etwas“, sagte Honadel befriedigt.
Sie verabschiedeten sich von Sabine. Als Honadel sie, sich schwer auf seine Krücke stützend, zur Tür brachte, erzählte er: „Das letzte Mal habe ich Gablenz übrigens voriges Jahr auf Henns Gartenfest getroffen. Das ist ja morgen abend auch schon wieder - Henns großes Gartenfest. Wird ziemlich lästig sein, dort mit dieser dämlichen Krücke herumzuhumpeln!“
Als Chris Honadel die Hand gab, überlief sie etwas wie ein kalter Hauch, ein Frösteln. Wenn er nicht auf sein Herz hört, sagte eine leise Stimme in ihr, dann ist er so gut wie tot - innerlich abgestorben, wie ein Baum mit durchtrennten Wurzeln.
Plötzlich heulte ein Wolf, langgezogen und klagend. So nah, daß Chris vor Schreck zusammenzuckte. Honadel schaute sie irritiert an, sagte aber nichts und ging ins Haus. Als die Haustür sich hinter ihnen geschlossen hatte, fragte Jonas: „Was war los? Ich habe gesehen, daß dich etwas erschreckt hat.“
„Hast du das Wolfsgeheul gehört?“ fragte Chris.
Jonas nickte. „Ja. Zum Glück ganz leise und weit weg. Sicher sind sie irgendwo im Itzwald unterwegs.“
Chris schaute ihn verwundert an. Wieso hatte sie das Heulen so nah gehört? Vielleicht waren ihre Nerven ganz einfach ein wenig überreizt.
Sie warf einen Blick auf Honadels Haus, das in der Dunkelheit groß und massiv wirkte, ein wenig wie eine trutzige Burg. Hier in diesem Neubaugebiet, das am Hang des Dachsberges, wo früher Schrebergärten und Streuobstwiesen gewesen waren, dem Wald entgegenwuchs, sahen alle Häuser so aus. Ausladend, mit dicken, klobigen Mauern, als versuchten ihre Bewohner verzweifelt die Welt auszusperren. Chris atmete tief durch. Die Luft roch gut nach dem Gewitterregen. „Laß uns noch ein Stück gehen“, schlug sie vor.
Jonas kratzte sich hinter dem Ohr. „Eigentlich bin ich reif fürs Bett. Aber wenn du möchtest, gern.“
Schweigend gingen sie die Straße hinunter. Alles wirkte so gleichförmig. Die Häuser, die Gärten davor. Einfallslos. Wenn ich Geld hätte, ein Haus zu bauen, würde es bestimmt nicht so langweilig werden, dachte Chris, seufzte und hob die Schultern. „Ach, es ist traurig, daß diese Leute, die Verantwortung tragen, alle so ... gefühllos sind.“
„Ich glaube nicht, daß Honadel gefühllos ist.“
„Nein, nicht wirklich. Aber er achtet nicht auf seine Gefühle. Er handelt nicht nach ihnen, weil er das für kindisch oder naiv hält. Und weil die sich alle so verhalten, kommen solche unglaublich dummen
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