Wendland & Adrian 02 - Die Krypta
Ihre Füße rollten weich wie Bärentatzen in den Schuhen ab. Wie eine Bärin nahm sie Witterung auf - Rehe, nicht weit entfernt, die Schafe drüben hinter dem Gatter. Und ihr Gehör schien weit über die Hügel zu reichen.
Für die Tiere war sie jetzt ein Teil des Waldes. Ein Dachs blieb dicht bei ihr am Weg stehen und schnüffelte laut in den Wind, ehe er sich gemächlich davontrollte. Eine große Eule strich tief über Chris' Kopf hinweg. Für eine Weile vergaß sie Vergangenheit und Zukunft, ging völlig in der Zeitlosigkeit der Wildnis auf. Erst als sie oben auf dem Dachsberg stand, sich außer Atem an den uralten Stein lehnte, kehrte die Zeit mit ihren menschlichen Problemen in Chris' Bewusstsein zurück.
»Mutter Erde«, betete Chris leise, während sie den Blick über das im silbernen Licht schlafende Land wandern ließ, »ich weiß nicht mehr weiter. Du hast mir das zweite Gesicht gegeben und mich nach Kanada zu dem alten Schamanen geführt. Ich weiß jetzt, ich habe keine andere Wahl, als dir zu dienen. Davon komme ich niemals los. Als ich Heike Vandenberg helfen konnte, war mein Herz leicht und froh. Wohin soll ich jetzt gehen? Aus dem Forsthaus muss ich bald ausziehen. Ich bin bereit dir weiter zu dienen. Zeig mir, wo ich heilen helfen soll. Vielleicht ist der Moment gekommen von hier fortzugehen. Vielleicht werde ich niemals zurückkehren. Zeig mir den Weg.«
Chris schwieg und lauschte mit den scharfen Ohren der Bärin. Die Nachtkälte drang durch ihre Kleider, doch die Bärenkraft durchströmte und umfing sie, wärmend wie ein dichter Pelz. Chris lauschte und wartete auf eine Antwort. Sie hatte das starke Gefühl, dass Silver Bear bei ihr war. Er hatte versprochen ihr aus der Geisterwelt Hilfe zu schicken, wenn sie sie benötigte. Und sie hatte das Gefühl, dass auch die Geister der Naturheilerinnen und keltischen Priesterinnen bei ihr waren, die an Steinen wie diesem zur Mutter Erde gebetet hatten, ehe überall im Land die Scheiterhaufen der Inquisition aufgeflammt waren und die Kirche ihre erbarmungslose Hexenjagd begonnen hatte.
Während Chris dort stand und in die Stille der Erde hineinlauschte, verschwand der Mond hinter dem Horizont. Langsam floss Licht in die dunstigen Täler und ein neuer Tag brach an.
Roland war spät nach Hause gekommen, so dass ihm Heike erst morgens beim Frühstück von ihren Erlebnissen bei Chris berichtete. Er aß ein Marmeladenbrötchen, während sie erzählte, wie der Falke zu ihr gekommen war. Als sie sagte, dass Chris auf der Reise, die sie für ihn unternommen hatte, zahnbewehrten Insekten begegnet war, lächelte er. »So?«, sagte er. »Und was hat das zu bedeuten?«
»Dein Immunsystem ist durch Stress geschwächt. Du solltest viele Vitamine essen und dir mehr Ruhe gönnen.«
Er zuckte die Achseln. »Na gut. Dann werde ich ab jetzt statt einer Kiwi täglich zwei essen. Zufrieden?«
Heike rührte in ihrer Kaffeetasse herum, obwohl der Zucker sich längst aufgelöst haben musste. »Ich frage mich, warum du in letzter Zeit so unter Stress stehst. Irgendwas macht dir zu schaffen. Ist es nur das eingestürzte Haus? Ich mache mir wirklich ein wenig Sorgen um dich.«
Roland schaute sie an und wieder einmal fand sie sein Gesicht wunderschön. »Glaub mir, Heike, da ist nichts, was dich beunruhigen müsste. Die Vandenbergs sind ein altes und zähes Geschlecht.« Er lächelte jungenhaft. »Wir sind hier in Köln verwurzelt wie der Dom. Diese Tradition gibt mir die Kraft, mit allen Schwierigkeiten fertig zu werden. Sei unbesorgt.« Er stand auf, küsste sie liebevoll und ging hinaus.
Dass er seine Familientradition erwähnte, geschah sehr selten. Heike fand es ungewöhnlich. Normalerweise sprach er nie darüber und mochte auch nicht, wenn sie danach fragte. Das war eigentlich das einzige Thema, bei dem er empfindlich reagierte und wütend wurde. Seine Familiengeschichte war tabu. Heike verstand nicht warum, respektierte seine diesbezügliche Empfindlichkeit aber und vermied es, ihn darauf anzusprechen. Auch der sonst so lustige und redselige Onkel Harald ließ sich nichts entlocken. »Wenn Roland nicht über die Vergangenheit seiner Familie reden will, sollten wir das respektieren«, hatte er dazu gesagt. »Wir wollen doch schließlich keinen Streit mit ihm. Bestimmt wird er dir zu gegebener Zeit alles erzählen, was du wissen möchtest. Auf jeden Fall waren die Vandenbergs in Köln immer sehr angesehen. Glaub mir, du hast mit Roland wirklich einen guten Fang
Weitere Kostenlose Bücher