Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
peinlich, der in Köln zwangsläufig entstanden war: Immerhin hatte sie mit ihren schamanischen Fähigkeiten den Dom vor dem Einsturz bewahrt, was sich unter den stets kommunikativen Kölnern natürlich schnell herumgesprochen hatte. Die Ehrenbürgerschaft, die die Kölner ihr angeboten hatten, hatte sie aber dennoch angenommen, weil sie die Leute nicht vor den Kopf stoßen wollte. Gaia sei Dank war es ihr aber gelungen, Roland Vandenberg die Idee auszureden, das neue geomantische Institut draußen am ehemaligen Kloster Bischofsweiler nach ihr zu benennen. Ruhm für die Nachwelt anzuhäufen – daran lag Chris wenig. Sie fand, dass sie schon genug damit zu tun hatte, die Gegenwart halbwegs zu meistern.
Wenn ich Günter nicht getroffen hätte, würde ich womöglich immer noch bei Heike und Roland in Köln herumhängen oder wer weiß, wohin es mich verschlagen hätte, dachte sie. Günter Scheeven hatte offenbar genau sie gesucht. Wieder einmal schienen jene geheimnisvollen Kräfte ihre Finger im Spiel gehabt zu haben, die Chris bei der Erfüllung ihrer schamanischen Bestimmung führten (manchmal auch ein wenig anschubsten): Alles fügte sich geradezu magisch zusammen.
Den riesigen Landbesitz der Scheevens hatten im neunzehnten Jahrhundert Günters Vorfahren erworben, die es als aus der Eifel stammende Fabrikanten in Köln zu großem Reichtum gebracht hatten. Günter hatte Chris als Verwalterin eingestellt. Sie erhielt das Jagdhaus als kostenlose Bleibe und außerdem zahlte er ihr ein ordentliches Gehalt. Von Anfang an war klar, dass Günter mehr suchte als lediglich eine Forstverwalterin. »Du bist Schamanin«, hatte er zu ihr gesagt, »und ich möchte, dass du die Hüterin meines Landes wirst, die spirituelle Hüterin. Mein Land dort soll eine friedliche Zone der Liebe sein – in einer immer chaotischer werdenden Welt.«
Er erwartete von ihr, dass sie die ganz praktischen Aufgaben einer guten Verwalterin managte, was Chris rasch in den Griff bekommen hatte: Zwei fest angestellte Waldarbeiter standen zu ihrer Verfügung und bewirtschaftet wurde nur ein kleiner Teil des Waldes. Der größte Teil sollte, so wünschte es Günter, sich selbst überlassen bleiben, wieder zu einem richtigen Urwald werden – eine faszinierende Idee, bei der Chris ihn voll unterstützte. Ihrem Vorschlag, im Wirtschaftswald Rückepferde einzusetzen, stimmte Günter begeistert zu. Zwei große, für diese Aufgabe ausgebildete Kaltblutpferde aus der Normandie wurden angeschafft, stattliche, ruhige und gutmütige Tiere, mit denen Chris und die beiden Arbeiter gerne zusammenarbeiteten. An motorisiertem Gerät gab es einen alten Deutz-Traktor und einen nicht minder betagten Unimog, die sich für manche Aufgaben doch als recht nützlich erwiesen. Und es machte Chris einen Riesenspaß diese urigen Gefährte zu steuern. Dann gab es natürlich noch ihren Dienstwagen – Chris’ absolutes Traumauto: den Landcruiser!
Der kleine Forsthof, von dem aus sie den Wald bewirtschafteten, lag noch etwas weiter von der Straße entfernt als das Jagdhaus. Chris hatte im Forsthof einen Seminarraum eingerichtet, den sie ihre »Waldschule« nannte. Ihre Waldführungen und Kurse in schamanischem, ökologischen Denken erfreuten sich inzwischen einer ordentlichen Nachfrage. Auch viele Schulklassen kamen, was Chris ganz besonders freute.
An den riesigen Wald grenzte Acker- und Weideland an, das sich ebenfalls in Günters Besitz befand und somit von Chris mit zu verwalten war. Es war an einen Demeter-Bauernhof verpachtet. Die Leute dort dachten aber zum Glück sehr aufgeschlossen, es handelte sich nicht um zu engstirnige und dogmatische Anthroposophen. Chris’ Verhältnis zur Anthroposophie war zwiespältig. Sie hatte einige von Rudolf Steiners Schriften gelesen (sie las überhaupt gern und viel; dafür gab es im Jagdhaus keinen Fernseher). Mit einigen seiner Ideen konnte sie sich anfreunden, aber manches, was er von sich gegeben hatte, hielt sie für ausgemachten Schwachsinn.
Mit den Hofleuten verstand sie sich dennoch gut und Chris und Jonas konnten sich dort täglich mit ausgezeichneten Bio-Lebensmitteln eindecken, was sehr praktisch war. Außerdem hatte Chris die Idee für ein Versuchsprojekt gehabt, das seit diesem Frühjahr in die Tat umgesetzt wurde: Ein Teil des an den Hof angrenzenden Waldes wurde als Schweineweide genutzt – selbstverständlich nur Wirtschaftswald, nicht der Urwald. Damit erweckten sie eine alte landwirtschaftliche Nutzform wieder zum
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