Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
»Gern.«
»Hedwig ist eine echte Nervensäge«, raunte Mario, als Hedwig in der Küche verschwunden war. »Ihre ständige Fürsorge geht mir ziemlich auf den Geist.«
»Ist sie schon lange bei Herrn Felten?«
»Sie hat schon für den alten Direktor gearbeitet. Onkel Arne hat sie übernommen, als er vor zwölf Jahren hier eingezogen ist. Kommen Sie, wir gehen in mein Zimmer. Hier unten ist es so leer und ungemütlich. Außerdem braucht Hedwig nicht alles mitzuhören.«
Eine breite offene Treppe erhob sich zu einer Galerie im ersten Stock, wo sich mehrere Zimmertüren aneinander reihten. Mario führte Susanne in eines der Zimmer, die alle auf den langen Betonbalkon hinausgingen. »Wie gefällt es Ihnen?«, fragte er. »Ich wohne erst seit drei Wochen hier.«
Es lagen viele Bücher herum. Torsten Mallmann hätte sich hier vermutlich auf Anhieb wohl gefühlt. In der Ecke stand eine kleine Stereoanlage, vor der sich CDs und Kassetten in sympathischem Chaos stapelten. Über dem Bett hing ein Poster von Albert Camus. Jedenfalls war der Beschriftung des Posters zu entnehmen, dass es sich um Camus handelte.
»An meiner Schule gab es eine Theater-AG. Wir haben Die Pest von Camus aufgeführt. Es hat Spaß gemacht, dabei mitzuspielen. Ansonsten ...« Er senkte den Kopf. »... war ich eher ein Außenseiter. Dafür hab ich viel gelesen. Kafka, Frisch und eben Camus.«
Susannes literarische Bildung wies beträchtliche Lücken auf. Camus kannte sie nur dem Namen nach, die beiden anderen waren immerhin einst im Deutschunterricht behandelt worden.
Mario machte ein unglückliches Gesicht. »Ich glaube, das Ölgeschäft ist nicht das Richtige für mich, auch wenn Onkel Arne meint, dass ich Betriebswirtschaft studieren oder Ingenieur werden soll wie er. Ich möchte lieber Germanistik studieren und später mal in einem Verlag arbeiten.«
Hedwig brachte ein Tablett mit duftendem Kaffee und Kaffeetassen sowie zwei Tellern, auf denen sich je drei große Stücke Marmorkuchen stapelten. Dazu gab es Butter und ein Glas Erdbeermarmelade. Susanne bedankte sich freundlich. Hedwigs Lächeln gefiel ihr. Mario beschränkte sich dagegen auf ein knappes, stummes Kopfnicken.
Als Hedwig das Zimmer verlassen hatte, goss Mario Susanne mit höflicher Gewandtheit Kaffee ein und fragte: »Wie hat Onkel Arne es denn aufgenommen?«
»Begeistert war er nicht, Mario. Er findet, Sie hätten nicht eigenmächtig handeln sollen. Aber er erkennt offenbar an, dass Sie sich Sorgen um ihn machen.« Sie lächelte aufmunternd. »Ich glaube, er mag Sie und das Donnerwetter wird nicht allzu schlimm ausfallen.«
»Ach, wegen des Donnerwetters mache ich mir keine großen Sorgen. Das stehe ich schon durch. Nein, ich meine, ob er bereit ist sich von der Polizei helfen zu lassen?«
»Ja«, antwortete Susanne, »ich habe eben mit dem Präsidium telefoniert. Wir schicken ihm noch heute einen unserer besten Sicherheitsspezialisten.«
Mario wirkte erleichtert. »Da bin ich froh! Danke, dass Sie das für mich getan haben! Wollen Sie Ihren Kuchen gar nicht probieren?« Er selbst hatte sein oberstes Stück dick mit Butter und Marmelade bestrichen und biss nun herzhaft hinein.
Susanne tat es ihm gleich. Chris’ leidenschaftliche Liebe zu Süßem teilte sie zwar nicht, musste aber zugeben, dass der Marmorkuchen prima schmeckte, schön saftig.
»Hedwig bäckt und kocht wirklich gut«, sagte Mario. »Trotzdem geht sie mir auf die Nerven. Aber Onkel Arne ist immer freundlich zu Hedwig. Er ist überhaupt zu fast allen freundlich. Natürlich muss er manchmal auch hart sein, aber anders lässt sich so ein Riesenunternehmen wie eine Raffinerie wohl nicht führen.«
Während sie kaute, ließ Susanne ihren Blick durchs Zimmer schweifen. In einem Regal stand ein Foto, das ein älteres Paar zeigte. »Sind das da Ihre Eltern?«
Mario nickte.
»Haben Sie ein gutes Verhältnis zu ihnen?«
Er zögerte einen Moment, dann sagte er: »Sie waren immer sehr nett zu mir.«
Während sie über diese eher neutrale Formulierung nachdachte, fragte sie: »Sie haben vorhin erzählt, Sie seien in der Schule ein Außenseiter gewesen. Wie kam’s?«
Er zuckte die Achseln. »Na ja, als ich hier in Deutschland in die Schule kam, war ich schon zwölf. In Belize war ich zuvor zwar sieben Jahre in einem Kinderheim gewesen, das von deutschen Nonnen geleitet wurde, aber mein Deutsch war längst nicht so gut wie heute. Vielleicht lag’s daran. Aber auch später, als ich akzentfrei Deutsch sprechen
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