Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
konnte, haben sie mich nicht akzeptiert. Irgendwie haben sie mir immer zu verstehen gegeben, dass ich anders war und nicht dazugehörte. Keine Ahnung, wieso. Vielleicht haben sie mich für einen Streber gehalten, weil ich immer gute Noten mit nach Hause brachte. Dabei war ich gar nicht übertrieben fleißig. Ich bin bei dem, was die Lehrer uns erzählten, einfach gut mitgekommen. Ich fand es nie besonders schwierig.«
»Und deshalb glaubt Herr Felten, Sie hätten das Zeug dazu, mal ein toller Ölmanager zu werden.«
Mario nickte.
Susanne sortierte die Informationen über seine Kindheit. Er stammte also aus Lateinamerika. Auch sein relativ dunkler Teint fand dadurch eine Erklärung. »Die Eberhards sind also gar nicht Ihre leiblichen Eltern, richtig?«
»Sie haben mich adoptiert, als ich zwölf war, und mit nach Deutschland genommen. Damit haben sie mir die Chance meines Lebens gegeben. Das Kinderheim dort war die Hölle. Nie haben wir genug zu essen bekommen und diese Nonnen waren widerlich. Sie haben immer von Gott und Jesus geredet, aber ständig haben sie uns verprügelt und uns ins Klo eingesperrt, wenn wir ihrer Ansicht nach nicht gehorchten. Ich werde meinen Adoptiveltern ewig dankbar sein.«
»Haben Sie denn eine Ahnung, wer Ihre leiblichen Eltern waren?«, fragte Susanne.
Seine Stimme klang traurig, als er antwortete. »Ich bin zu den Nonnen ins Kinderheim gesteckt worden, als ich fünf war. Meine ganze Kindheit davor liegt wie hinter einer schwarzen Wand verborgen. Ich habe daran überhaupt keine Erinnerung. Ich bin mal zu einem Schulpsychologen geschickt worden und der meinte, es müsse irgendwas Traumatisches passiert sein. Mein Bewusstsein würde sich gegen etwas sperren. Er hat mir geraten zu einem richtigen Seelenklempner zu gehen – so nennt mein Vater diese Typen. Aber das wollte ich nicht. Und mein Vater meinte, dass es besser ist, solche Sachen mit sich selbst auszumachen.«
Susanne betrachtete das Foto erneut. Der Mann darauf musste über sechzig sein. Da verwunderte eine solche Einstellung nicht. Für jene Generation waren Psychotherapeuten noch etwas sehr Anrüchiges. Leute, die sich zu ihnen in Behandlung begaben, wurden für nicht ganz richtig im Kopf gehalten.
Mario schob seinen Teller weg, ohne den Kuchen aufzuessen. Er erhob sich, ging zur Balkontür, öffnete sie und schaute hinaus. »Ich habe das Gefühl, dass ich Ihnen vertrauen kann«, sagte er.
»Ich mache nur meine Arbeit.«
»Trotzdem. Ich spüre es. Ich hab so eine Art sechsten Sinn. Manchmal weiß ich Dinge, die ich eigentlich gar nicht wissen kann. Wahrscheinlich bin ich deswegen anders. Und die Leute mögen mich nicht besonders.«
»Bilden Sie sich das nicht nur ein? Ich finde Sie keineswegs unsympathisch.«
Er drehte den Kopf und lächelte. »Nett von Ihnen, das zu sagen. Ich möchte Sie um Rat fragen. Da ist etwas, worüber ich noch nicht mal mit Onkel Arne oder den Eberhards sprechen würde. Aus Angst, dass sie mich für verrückt halten.«
Zum ersten Mal nannte er sie nicht seine Eltern, sondern einfach nur die Eberhards.
»Es ist überhaupt nicht meine Art, Leute gleich für verrückt zu erklären, nur weil sie Ungewöhnliches zu berichten haben. Also, schießen Sie los!«
»Ich habe es gesehen«, sagte Mario leise, mit gesenktem Blick.
»Was?«
»Wie sie gestorben sind.«
»Wer?«
»Sempold und Krupka.«
Susanne musterte ihn aufmerksam. »Langsam. Sie haben gesehen, wie die beiden Männer in der Raffinerie getötet wurden?«
Mario nickte.
»Was haben Sie denn in den beiden Nächten dort in der Raffinerie gemacht?«
»Ich war nicht dort.«
»Aber Sie haben doch gerade gesagt ...«
»Ich war hier. In meinem Zimmer.«
Susanne stand auf, stellte sich neben ihn und schaute hinaus. Man konnte über den Garten hinweg die Straße sehen und den hohen Zaun der Raffinerie. Doch die Claus-Anlage befand sich am anderen Ende des Geländes, mehrere hundert Meter entfernt. »Wie wollen Sie es dann gesehen haben?«
»Ich habe es geträumt.«
Sie starrte ihn irritiert an. »Geträumt?«
»In beiden Nächten habe ich von einem schwarzen Jaguar geträumt, der ... getötet hat. In der einen Nacht habe ich gesehen, wie er Sempold anfiel, in der anderen Nacht, wie er Krupka tötete. Ich habe die beiden dabei genau sehen können und auch den Ort, wo es passiert ist.«
Es im Traum gesehen wie Chris. Was ging hier nur vor?
»Beide Male bin ich schweißgebadet aufgewacht. Und beim zweiten Mal war das Entsetzen noch
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