Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
erklären«, hatte Silver Bear dazu gesagt. Es gab einen ganzen Kanon dieser Lieder, von denen jedes einem bestimmten Zweck diente: zur Entspannung, zur Heilung des Körpers oder der Seele, zur Inspiration, zur Linderung von Liebesleid, Trauer oder Wut.
»Es sind keine indianischen Lieder«, hatte Silver Bear erzählt. »Ich habe sie auf einer meiner Himalaya-Reisen in Nepal von einem uralten tibetischen Lama gelernt. Sie sind viel älter als unsere indianische Kultur, und dabei sind wir ein altes Volk. Sie stammen aus einer Zeit, als diese Welt sehr jung war. Die Grenzen zwischen unserer materiellen Welt und der Welt, die Jenseits oder Geisterwelt genannt wird, waren damals noch nicht so fest wie heute. Die materielle Welt wurde einst aus Tönen, aus Klängen erschaffen. In ihrem tiefsten Wesensgrund ist sie reine Musik. In eurer Bibel heißt es: ›Am Anfang war das Wort‹, und damit sind eher Klänge gemeint als Worte im heutigen Sinn. Diese Lieder wirken auf jener ursprünglichen Ebene. Sie sind eine Musik, die unmittelbar auf die Schwingungen der Atome einwirkt, aus denen die materielle Welt sich zusammensetzt. Sie sind ein sehr heiliges, kostbares Geschenk.«
Wenn Chris die Lieder sang, war das für sie und alle anderen Anwesenden immer sehr wohltuend. Manchmal empfing sie dabei schemenhafte Eindrücke einer seltsamen, golden leuchtenden Sphäre, die gewissermaßen der Grundstoff zu sein schien, aus dem die materielle Welt gewebt wurde. Doch Chris hatte auch das Gefühl, dass die Lieder sehr heilig waren und besonderen Gelegenheiten vorbehalten bleiben sollten. In der augenblicklichen Lage schien es ihr aber angemessen, zu diesem Mittel zu greifen.
Mario lag auf dem Bett und hatte die Augen geschlossen. Zu Beginn des Liedes hatte er gelächelt und leise gesagt: »Das ist schön! Sehr angenehm.« Inzwischen war sein Atem tiefer und langsamer geworden. Lass ihn ruhig einschlafen, sagte sich Chris. Vielleicht finde ich dann etwas über seine Träume heraus, über die Beziehung zwischen ihm und dem geheimnisvollen Jaguar.
Schließlich war sie sicher, dass Mario schlief. Ich will das Lied sanft ausklingen lassen, dachte sie. Dann gehe ich in Trance und schaue, ob ich Verbindung zu Marios Traumbewusstsein aufnehmen kann.
In diesem Moment trat eine Veränderung ein. Chris verlor das Lied. Das war ihr noch nie geschehen. Die Töne klangen plötzlich falsch, als ob irgendetwas ihre Entfaltung hemmte. Chris’ Kehle wurde eng. Ein angstvolles körperliches Unbehagen stellte sich ein. Chris verstummte.
Es war, als überlagerte eine schwere, dunkle Energie die leichten, heiteren Schwingungen des Liedes.
Chris wäre am liebsten aufgesprungen und aus dem Zimmer gerannt, so unangenehm hatte die Atmosphäre sich verändert. Sie atmete tief durch und versuchte sich zu beruhigen. Vielleicht war das ja die Gelegenheit, Erklärungen für die unheimlichen Vorgänge in der Raffinerie zu finden. Wenn sie jetzt weglief, hätte sie als Schamanin versagt. Sie zwang sich zur Ruhe, schloss die Augen, ließ den Kristalltunnel vor ihrem inneren Auge erscheinen und machte sich bewusst, dass an dessen anderem Ende die Bärin mit ihren unerschöpflichen Kräften bereitstand.
Diesmal wirkten die flimmernden Bilder und Reflexe auf den Kristallen im Tunnel intensiver als sonst. Es fiel Chris sehr schwer, ihrem Sog zu widerstehen. Sie war bestürzt: Die Kristalle spiegelten Bilder, die nicht aus ihrem eigenem Bewusstsein stammten. Das war noch nie geschehen! Irgendeine starke Energie war in den Tunnel eingedrungen, den Chris bislang immer für ihren ureigenen Zugang in die andere Welt gehalten hatte. Statt leicht wie eine Feder hindurchzuschweben, musste sie sich wie durch zähen Sirup kämpfen. Sie hörte fremde Stimmen in einer Sprache, die sie nicht kannte. Aufgeregte Schreie, das Geräusch rennender Füße. Sie sah schemenhafte Bilder aus einem Dschungel. Da stand ein alter, halb verfallener, von Grün überwucherter Tempel. Dann fielen Schüsse, sie hörte das harte, ratternde Geräusch von Maschinenpistolen. Chris sah dunkelhäutige Menschen in indianisch wirkender Tracht. Einige schossen mit altertümlichen Pistolen und Gewehren. Chris sah die Indianer fallen, im Kugelhagel blutend zusammenbrechen.
Dann war sie durch diese Albtraumbilder hindurch, die auf rätselhafte Weise in den Tunnel eingedrungen waren, stand auf ihrer Wiese und suchte nach der Bärin. Sie war nicht da. Dafür öffnete sich am anderen Ende der Wiese der Blick
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