Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
daran zu hindern, unangenehme Dinge auszuplaudern. Da hätte kein Geld in ein teures Privatgymnasium investiert werden müssen.
Nein, Felten versuchte offenbar an Mario etwas gutzumachen. Eine Schuld abzutragen vielleicht. Oder handelte es sich um reine Menschenfreundlichkeit? Hatte er einfach irgendein armes Waisenkind aus Lateinamerika ausgewählt, für das er den barmherzigen Samariter spielen konnte? Wozu dann die Heimlichtuerei bezüglich Belize? Und was hatten Felten, die Eberhards und dieser Roger früher dort getrieben? Krumme Geschäfte? Jonas nahm sich vor, Susanne eine gründliche Durchleuchtung von Feltens Vergangenheit zu empfehlen.
Weiter vorn hatte Mister Brown ein geeignetes Gebüsch erspäht und zog an der Leine. Er wusste, was sich gehörte, Bürgersteige waren fürs Geschäft tabu. Bis zum heutigen Tag hatte Jonas keine Ahnung, wozu ein Medizinhund eigentlich gut war oder was ihn von einem ganz normalen Hund unterschied. Nicht, dass er etwas gegen Mister Brown gehabt hätte, im Gegenteil, er mochte das dicke Zottelvieh.
Aber was machte ihn zum Medizinhund? Er fraß viel, schlief viel, planschte mit Vergnügen im Waldsee herum und spielte gern Stöckchen holen, legte dabei allerdings keine besondere Gewandtheit und Schnelligkeit an den Tag (nicht selten fand er den Stock schlichtweg nicht wieder). Als Wachhund taugte er auch nicht besonders, dafür war er Fremden gegenüber viel zu verspielt und neugierig. Von der Jagd ganz zu schweigen: Jonas konnte sich nicht vorstellen, dass Mister Brown jemals in der Lage sein würde ein Reh oder einen Hirsch einzuholen.
Mister Brown hatte seine Notdurft verrichtet und tauchte wieder aus dem Gebüsch auf. Er schaute Jonas an und ließ ein leises Wuffen hören. Ob er spürte, dass sich Jonas gerade Gedanken über ihn machte? Jonas hielt Telepathie für nicht unmöglich. Es gab physikalisch und erkenntnistheoretisch einige gute Argumente, die dafür sprachen, dass dergleichen funktionieren konnte. »Komm«, sagte Jonas. »Rückmarsch.«
Mister Brown trottete los. Er war jedenfalls kein Hund, bei dem man Mühe hatte, Schritt zu halten. Normalerweise. Allerdings konnte er unversehens eine unglaubliche Zugkraft entwickeln, wenn er etwas entdeckte, das ihn neugierig machte. Wobei oft nicht klar festzustellen war, was eigentlich seine Neugierde weckte. Kaninchen oder Katzen nicht. Die waren ihm zu schnell. Menschen machten ihn fast immer neugierig. Manchmal trabte er aber auch einfach bellend und schwanzwedelnd los, bis er irgendwann verwundert stehen blieb, als habe er vergessen, wonach er eigentlich suchte.
»Verstehe einer diesen Hund!«, stöhnte Jonas dann gern, worauf Chris lachend zu antworten pflegte: »Hauptsache, du magst ihn und er dich. Du musst ihn ja nicht verstehen.«
Sie näherten sich wieder Feltens Grundstück. Dort vorn standen die Haselnusssträucher, durch die diese angeblichen Indianer sich auf den Rasen geschlichen haben sollten.
Was machte Mister Brown nun also zum Medizinhund? Chris’ einzige Antwort lautete: »Ehrlich gesagt, ich weiß selbst nicht so genau, was ein Medizinhund eigentlich tut. Silver Bear hat zu mir gesagt: ›Es ist gut,wenn ein Schamane einen eigenen Medizinhund hat.‹ ›Aber wie finde ich einen und wie bilde ich ihn aus?‹, habe ich gefragt. ›Schließlich haben alle Indianer Hunde. Wo ist der Unterschied ?‹ Nun funktioniert die indianische Schamanenausbildung aber nicht so, dass du Fragen stellst und darauf präzise Antworten bekommst. Silver Bear hat nur gegrinst und gesagt: ›Finde es heraus. Lass dich finden. Ein Medizinhund kommt zu dir, wenn der Zeitpunkt günstig ist und du bereit.‹ Er selbst besaß einen herrlichen großen weißen Hund. Das war der klügste Hund, den ich je gesehen habe. ›Er hilft mir‹, sagte Silver Bear. Aber wie, habe ich nie so recht herausgefunden.«
Chris hatte Mister Brown in Köln aus dem Tierheim geholt. »Ich bin dort herumgelaufen und plötzlich stand er schwanzwedelnd vor mir, hat mich angeschaut und ich wusste, das isser!« Und seither fragte sich Jonas manchmal, ob nun Chris den Hund ausbildete oder der Hund sie. Eines hatten die beiden auf jeden Fall gemeinsam: einen beachtlichen Appetit ...
Sie hatten die Haselnusssträucher erreicht, als der rätselhafte Medizinhund abrupt stehen blieb. Er schaute Jonas an, und dann – schwupp! – stand er mit den Vorderbeinen plötzlich auf der Grundstücksmauer und spähte durch die schmiedeeisernen Zaunstreben in Feltens
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