Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
Polizei aus München hat heute schon ganz früh hier angerufen. Aber ...« Sie schüttelte den Kopf. »Er hat gesagt, dass er es schon wusste. Er hat es im Traum gesehen. Oh, es ist alles so furchtbar!« Sie zog ein zerknülltes Taschentuch aus der Schürze und wischte sich die Tränen ab.
Susanne legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter und fragte: »Wie wird er damit fertig?«
»Er ... ist sehr ruhig und gefasst. Ich meine ... fast zu ruhig. Ich mache mir Sorgen um ihn.«
»Wo ist er denn?«
»Sitzt schon die ganze Zeit oben in seinem Zimmer. Er wollte nichts frühstücken. Gehen Sie nur zu ihm hoch. Vielleicht hilft es, wenn Sie mit ihm reden.«
Susanne stieg die Treppe hinauf und klopfte an Marios Tür. Es kam keine Antwort. »Mario? Ich bin es. Susanne Wendland, die Kommissarin.«
Sie wollte schon einfach die Tür öffnen, als diese plötzlich aufschwang und Mario vor ihr stand. Er wirkte blass hinter seinem dunklen Teint, schwarze Schatten unter den Augen.
»Es tut mir Leid«, sagte Susanne. »Ich habe vom Tod Ihrer Adoptiveltern erfahren.«
»Sie haben mich angelogen.«
»Wer? Die Eberhards?«
Er machte ihr Platz, sodass sie eintreten konnte, ging zu seinem ungemachten Bett und setzte sich.
»Alle. Immer schon. Auch Onkel Arne. So ist es doch, nicht wahr?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Susanne zögernd. »Wissen Sie es denn oder vermuten Sie es nur?«
»Gestern hat mein Adoptivvater zum letzten Mal gelogen. Er hat behauptet, dass er heute hierher nach Köln kommen will. Aber da hatte er in Wahrheit längst Flugtickets nach Neuseeland in der Tasche. Die Polizei aus München hat mir das heute Morgen gesagt. Sie wollten abhauen.«
»Haben Sie eine Idee, warum? Wovor wollten sie fliehen?«
»Na, vor dem Jaguar, wovor denn sonst?«, erwiderte er heftig, sprang auf, ging zur offenen Balkontür und starrte hinaus. Nach einem Moment des Schweigens sagte er leise: »Vielleicht ist es gut, dass sie tot sind.«
»Gut? Haben Sie denn wirklich Grund dazu, Ihre Adoptiveltern zu hassen? »
»Weiß ich denn, was sie getan haben, damals in Belize?«
Susannes Augen wurden schmal. »Dann glauben Sie also, dass der schwarze Jaguar Rache nimmt für etwas, das damals geschehen ist?«
Mario schlug mit der flachen Hand gegen den Türrahmen. »Verdammt, was fragen Sie mich das? Ich weiß doch überhaupt nichts! Ich weiß nichts über meine wirklichen Eltern, ich weiß nicht, warum ich den Jaguar im Traum sehe, ich weiß nicht, warum alle diese Leute gestorben sind!« Leiser fügte er hinzu: »Ich merke nur, dass ihr Tod mich ... irgendwie kalt lässt. Obwohl ich sie doch eigentlich gemocht habe. Aber ich habe im Moment das Gefühl, dass ich sie nicht vermissen werde, weder die Eberhards noch Onkel Arne. Und das erschreckt mich. Irgendwie fühlt es sich an, als ob es richtig wäre, dass sie nicht mehr da sind.«
Er starrte eine Weile schweigend hinunter auf den Rasen, dorthin, wo er die seltsamen Fremden gesehen haben musste und wo auch Jonas ihnen begegnet war.
Susanne ließ ihm Zeit. Wenn es irgendwie gelang, diese Wand zu durchbrechen, die ihn von seinen Kindheitserinnerungen trennte ... Die schwarze Wand, von der Chris gesprochen hatte.
Jetzt drehte er sich um und schaute Susanne an: »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Eben rief ein Notar an, ein Bekannter Onkel Arnes. Er hat mir mitgeteilt, dass Onkel Arne mich in seinem Testament als alleinigen Erben eingesetzt hat. Die Testamentseröffnung ist schon morgen. Und zwar in Onkel Arnes Büro in der Raffinerie.«
»In der Raffinerie – warum denn das?« An dem Ort, wo Felten gestorben war. Das erschien Susanne ungewöhnlich.
»Der Notar sagte, dass ein wertvoller Gegenstand Teil des Erbes ist. Onkel Arne hat ihn in einem Safe in seinem Büro aufbewahrt. Dieser Safe soll morgen im Beisein des Notars geöffnet werden.« Mario zögerte, druckste einen Moment herum. »Ich möchte Sie um einen Gefallen bitten.«
»Ja?« Susannes Gedanken überschlugen sich. Der Kristallschädel. Ein Teil von ihr wusste, dass Chris das zweite Gesicht hatte und Unsichtbares sehen konnte, aber wenn die Realität dann diese Visionen bestätigte, empfand Susannes gesunder Menschenverstand das immer noch wie einen elektrischen Schlag.
»Ich fühle mich ... so allein. Ich hatte noch nie mit Testamenten und solchen Sachen zu tun. Würden Sie mich morgen zu diesem Termin begleiten? Und vielleicht könnte auch Ihre Freundin mitkommen, Chris Adrian. Ich habe irgendwie das
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