Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
betreffen.
Im Sommer 1980 bereiste ich mit Freunden, zu denen auch deine Adoptiveltern gehörten, den Dschungel von Belize, um alte Maya-Tempelstätten zu besichtigen. Dabei lernten wir eine Sippe des so genannten Balam- oder Jaguar-Volkes kennen. Sie sind Indianer, behaupten jedoch von sich, dass ihr Volk älteren Ursprungs ist als die Kultur der Maya, deren Nachfahren ebenfalls diese Region bewohnen. Die Balam-Menschen leben nomadisch im Dschungel und mit fortschreitender Ausbreitung der modernen Zivilisation ist ihre Lebensweise wohl zum Aussterben verurteilt. Sie führen einige alte Kultgegenstände mit sich, als deren Hüter sie sich bezeichnen. Nach ihrer Aussage stammen diese Kultgegenstände aus einer viel älteren Epoche als die Kunstwerke der Maya. Sie sollen von einer überlegenen Kultur geschaffen worden sein und die Balam-Leute betrachten sich sozusagen als deren Nachlassverwalter ...‹ «
Chris musste an Jonas’ unheimliche Begegnung denken. Die Balam-Menschen. Das Jaguarvolk ... Gespannt hörte sie zu.
». .. Wir wurden von diesen Menschen sehr gastfreundlich aufgenommen und während dieses Aufenthaltes verliebte ich mich in Tula, die schöne Tochter des spirituellen Führers der Sippe, Votan. Sie erwiderte meine Liebe und wir gingen eine intime Beziehung ein. Als dies bekannt wurde, erwartete Votan von mir, dass ich Tula zur Frau nahm und nach dem Ritual seines Volkes heiratete. Anderenfalls wäre sie verstoßen worden. Ich willigte ein und Tula, die eine Zeit lang eine Missionsschule besucht hatte und sich danach sehnte, die Welt außerhalb des Dschungels kennen zu lernen, ging mit mir nach Belize City. Zur Hochzeit schenkte mir Votan, der mich als seinen Schwiegersohn akzeptierte hatte, einen wunderschönen Artefakt aus Bergkristall, die Nachbildung eines menschlichen Schädels. Er sagte, dieses Objekt gelte in seiner Sippe als außerordentlich heilig und solle mich und seine Tochter in unserem weiteren Leben beschützen. «
Chris horchte auf. Da war er also, der Schädel!
»Als wir in Belize City eintrafen, war Tula bereits schwanger. Leider stellte sich rasch heraus, dass unsere Liebe im Wesentlichen auf Illusionen gegründet war. Die kulturellen Unterschiede zwischen uns erwiesen sich als unüberbrückbar groß. Schon nach kurzer Zeit sehnte sie sich in den Urwald zurück. Ihre einzige Verwandte in Belize City, eine Kusine, die mit ihrem Mann wenige Jahre zuvor in die Stadt gezogen war, fristete dort ein trauriges, ärmliches Dasein. Auch wollte Tula ihr Kind nach traditioneller Art bei ihrem Volk zur Welt bringen und nicht in einem Krankenhaus. Ich andererseits wollte in der Ölindustrie Karriere machen und hatte eine viel versprechende Stellung bei der mittelamerikanischen Europetrol-Niederlassung in Belize City angenommen.
Kurz gesagt: Wir trennten uns rasch wieder. Allerdings fiel uns beiden der Abschied dann doch schwer. Ich schenkte ihr eine kleine Pocketkamera und nahm ihr das Versprechen ab mir Bilder unseres Kindes zu schicken. Dann kehrte sie zu ihrem Vater Votan in den Dschungel zurück. Tula brachte dort einen Sohn zur Welt und dieser Sohn, mein lieber Mario, bist du ...«
Dr. Jachzig blickte auf und machte eine bedeutungsvolle Pause, dann fuhr er fort:
»Ich, Arne Felten, bin dein Vater, Mario.«
Der Notar schwieg, offenbar um Mario erst einmal Gelegenheit zu geben diese Nachricht zu verarbeiten. Chris konnte sehen, wie es in Marios Gesicht heftig arbeitete. Der junge Mann nahm die Neuigkeit, wie es schien, mit sehr gemischten Gefühlen auf. Was für eine Ironie des Schicksals, endlich den leiblichen Vater gefunden, ihn aber doch schon wieder verloren zu haben!
Mario räusperte sich und sagte mit gepresster Stimme: »Lesen Sie bitte weiter.«
»Wie Sie wünschen: ›Ich möchte meine Rolle nicht besser darstellen, als sie war, Mario. Kurz nach dem Weggang deiner Mutter ging ich eine Affäre mit einer anderen Frau ein, einer Weißen, und dachte kaum noch an Tula und unser gemeinsames Kind. Eines Tages, fast zwei Jahre nach Tulas Weggang, kam mit der Post ein Umschlag, der einen Brief Tulas – sie hatte in der Missionsschule lesen und schreiben gelernt - und einen belichteten Film enthielt. Ich brachte ihn sofort zum Entwickeln. Es waren Bilder von Tula, von Votan und seiner Sippe und von dir, Mario. Tula und Votan wirkten auf den Bildern erschöpft und abgezehrt. Man sah ihnen an, wie schwer das Leben im Dschungel geworden sein musste. Ihr traditionelles Stammesgebiet
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