Wendland & Adrian 03 - Nachtauge
geordnet weiterläuft.«
»Nun machen Sie schon!« Marios Stimme klang gereizt, nervös und etwas unverschämt, fand Chris.
Williams gab den Zahlencode ein und öffnete den Tresor. Ein würfelförmiger Holzkoffer stand darin, in den ein menschlicher Schädel in natürlicher Größe gut hineinpasste. Williams nahm den Koffer heraus und stellte ihn auf den Konferenztisch. »Wollen Sie ihn selbst öffnen, Herr Eberhard?«, fragte er. »Immerhin gehört er jetzt Ihnen.«
Alle erhoben sich und starrten gebannt auf den Koffer.
»Okay.« Mario zögerte einen Augenblick, dann klappte er die beiden Verschlüsse des Koffers hoch und öffnete den Deckel. Chris spürte, wie ihr Herz plötzlich heftig zu klopfen begann. Sie beugte sich vorsichtig vor, um besser sehen zu können.
Da lag der Schädel, kühl schimmernd. Da war ... eine Kraft wie ein Elektroschock.
»Ooooh!« Chris wurde abrupt schwarz vor Augen, ihre Beine sackten weg. Sie fiel und fiel ...
Dann spürte sie etwas Warmes, Feuchtes, Schlabberndes in ihrem Gesicht. Sie schlug die Augen auf und sah Mister Browns riesige weiche Schnauze. »Oh!«
Sie lag auf dem Boden. »Hey, ist ja gut.« Sie schob Mister Browns Schnauze weg und streichelte ihm den Kopf. Susanne kniete neben ihr und machte ein sehr besorgtes Gesicht.
»Was ist denn überhaupt passiert?«, fragte Chris verwirrt.
»Keine Ahnung«, sagte Susanne. »Du hast den Schädel gesehen und bist plötzlich aus den Latschen gekippt. Ich habe deinen Fall gerade noch etwas abfangen können, damit du dir nicht den Kopf anschlägst. War ein ziemlicher Kraftakt. Gleichzeitig hat Mister Brown draußen laut zu jaulen angefangen und wie verrückt an der Tür gekratzt. Da hat die Sekretärin die Tür aufgemacht und er kam hereingeschossen und hat dich buchstäblich wachgeleckt.«
Chris setzte sich auf und kraulte Mister Brown den Hals. »Guter Hund!«
»Wie fühlst du dich denn? Bist du wieder okay?«
Chris spürte einen Moment in ihrem Körper herum, konnte aber keinerlei Schäden feststellen. »Ich glaube ja.«
Dr. Jachzig beugte sich zu ihr herunter und reichte ihr ein Glas Wasser. »Trinken Sie erst mal einen Schluck. Das hilft. Ich habe da meine Erfahrungen. Wissen Sie, es kommt gar nicht so selten vor, dass bei Testamentseröffnungen Leute in Ohnmacht fallen.«
Chris trank, fühlte aber, dass das eigentlich gar nicht nötig war. Sie war tatsächlich wieder ganz in Ordnung. Vorsichtig schaute sie zum Tisch hoch.
»Keine Angst«, sagte Mario. »Ich habe den Koffer wieder zugeklappt.«
Chris stand auf. Nichts. Kein Wackeln oder Schwanken, »’tschuldigung«, sagte sie. »Jetzt ist der Hund doch im Büro.«
Williams winkte lächelnd ab. »Kein Problem. Schließlich handelte es sich um einen Notfall. Er hat ja erste Hilfe geleistet.«
7. KAPITEL
Chris, Susanne und Mario saßen in der Werkskantine der Raffinerie, etwas abseits in einer ruhigen Ecke. Die Sekretärin hatte Mario einen großen Projektorenkoffer aus Kunststoff gegeben, in den der Schädelkoffer hineinpasste. So ließ er sich besser transportieren und war weniger auffällig. Der Koffer stand neben Mario. Daneben saß Mister Brown, den Chris kurzerhand mit in die Kantine genommen hatte. Niemand hatte lautstark dagegen protestiert, auch wenn das Personal etwas seltsam guckte.
Chris vertilgte ein großes Stück Apfelkuchen mit Schlagsahne, um sich zu erden. Für Kantinenessen war der Kuchen sogar recht gut. Mario und Susanne tranken nur Kaffee. Susannes Hand spielte nervös’ mit dem Feuerzeug. Geraucht werden durfte aber erst, wenn Chris aufgegessen hatte. Grundsätzlich war sie gegenüber Nikotinsüchtigen tolerant, mit zwei Ausnahmen: beim Autofahren und beim Essen. Wenn sie dabei jemand voll qualmte, weckte das ihren Bärenzorn.
Zwar mochte es den Anschein haben, dass Chris ihre ganze Aufmerksamkeit dem Essen widmete, doch sie sondierte gleichzeitig Marios Aura und versuchte zu erspüren, was in ihm vorging. Chris konnte die Aura nicht sehen. Manchen Sensitiven war es möglich, die Aura als farbigen Lichtkranz um den Körper von Menschen, Tieren oder Pflanzen wahrzunehmen und aus Farben und Form der Aura Rückschlüsse zu ziehen. Bei Chris war es eher ein »Spüren«, eine Erweiterung ihres körperlichen Tastsinnes.
Bei Mario spürte sie allerdings kaum etwas. Seine Energie schien ganz klein und eng in seinem Körper zusammengerollt zu sein. Kaum etwas drang nach außen. Das hatte sie bislang nur bei Schwerkranken erlebt und fragte sich,
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