Wenn alle anderen schlafen
»Ich
war drüben in Marin, weil ich plötzlich so eine Idee hatte, wo Neal sein
könnte. War aber falsch. Seit ich wieder zurück bin, sitze ich hier und warte auf
dich.«
Ich blickte auf und sah sein
zerquältes Gesicht. Fühlte, daß meins ganz ähnlich aussehen mußte.
»Gott sei Dank hast du endlich
beschlossen, mich ins Vertrauen zu ziehen«, sagte ich. »Jetzt können wir uns
vielleicht gegenseitig helfen.«
Zweiter Teil
25.
Februar — 7. März
Wenn alle anderen schlafen —
das sind für mich die Stunden, in denen sich alles zusammenfügt: Fakten,
Eindrücke, Nuancen. Muster bilden sich heraus — manche klar, andere wie Sprünge
in einer zerschossenen Glasscheibe. Aber es sind alles Muster, und sie
enthalten eine innere Logik.
Die klaren Muster sind logisch
aufgebaut, in sich schlüssig. Ein Detail führt fein säuberlich zum nächsten.
Ich neige dazu, ihnen zu mißtrauen; hinter simplen Strukturen verbirgt sich oft
Falsches. Die chaotischen Muster interessieren mich mehr. Ein Sprung schneidet
einen zweiten, führt zu einem dritten, einem zehnten, einem hundertsten. Wenn
ich meine Gedanken ungehindert diese Sprunglinien entlangdriften lasse, schält
sich vielleicht eine Wahrheit heraus.
Es ist nicht leicht, mich
diesem inneren Mäandern zu überlassen. Da ist immer der Drang, zu manipulieren,
Ordnung zu schaffen, wo eigentlich keine existiert. Oder aber alles in ein noch
größeres Chaos zu verwandeln und dabei Wertvolles zu vernichten.
In diesen späten Nachtstunden
versuche ich, mein Tun und mein Denken in Einklang zu bringen. Ich bewege mich
langsam und bewußt durch meine Wohnung — oder durch die Umgebung, in der ich
mich gerade befinde. Ich gieße mir sorgsam einen Becher Kaffee oder ein Glas
Wein ein, ohne einen Tropfen zu verschütten. Aber meine Gedanken preschen
voraus.
Je schneller sie werden, desto
stärker vermengen sie sich mit Gefühlen. Dann ist der Prozeß nicht mehr
aufzuhalten. Irgendwo wartet ein Schluß — aber wer kann sagen, ob er richtig
oder falsch ist? Ein Schluß, an dem vielleicht mein Leben hängt — aber wer kann
seine Richtigkeit beurteilen?’
Ich nicht.
Wenn alle anderen schlafen,
beginnt für mich eine heikle Gratwanderung zwischen Wahr und Falsch, eine Zeit,
da die Balance zur einen wie zur anderen Seite kippen kann.
Dienstag
Die Gesichter rings um den
alten Eichentisch im Konferenzraum, den sich mein Ermittlungsbüro mit Altman
& Zahn teilte, waren ernst und aufmerksam: Rae, Charlotte, Mick. Ted saß
ein wenig abseits, Anspannung und Erschöpfung in Gesicht und Körperhaltung. Ich
hatte gerade erklärt, daß sowohl er als auch ich ernste Probleme hatten und daß
wir der Mitarbeit aller bedurften. Jetzt gab ich Rae das Faktenpapier zu Teds
Situation, das er und ich am Vormittag erstellt hatten, in dreifacher
Ausfertigung. Sie nahm einen Satz Blätter und reichte die übrigen weiter.
Einen Moment lang dachte ich an
die Hunderte, ja, vielleicht Tausende von Stunden, die ich an diesem Tisch
verbracht hatte, als er noch am Küchenfenster des großen Altbaus von All Souls
gestanden hatte. Ehe der unvermeidliche Niedergang dieses
Armenanwaltskollektivs begonnen hatte, hatten wir uns oft dort versammelt, um
Triumphe und Niederlagen zu teilen, Poker oder Monopoly zu spielen. Jetzt
wieder hier zu sitzen machte mir klar, daß sich seither so viel auch wieder
nicht geändert hatte; es gab noch immer Menschen in meinem Leben, auf die ich
zählen konnte.
Ich sagte: »Auf diesen Blättern
findet ihr Daten und Details zu einigen erschreckenden Dingen, die Ted im
letzten Monat widerfahren sind, aber bevor ihr das lest, wird er euch die
Situation kurz umreißen.« Ich bedeutete ihm mit einer Handbewegung, daß er
jetzt das Wort hatte.
Er zögerte kurz, zuckte die
Achseln, als schüttle er etwas ab, was jetzt nicht mehr wichtig war, räusperte
sich und sagte: »Wieso habe ich das Gefühl, daß ich sagen müßte: ›Hallo, ich
heiße Ted und bin ein Arschloch«? Na ja, das bin ich schließlich den ganzen
letzten Monat gewesen. Ich habe euch alle mies behandelt, und das tut mir leid.
Angefangen hat das Ganze damit, daß ich eines Tages in unserem Briefkasten
einen zusammengefalteten Zettel fand, auf dem Neals Name stand. Normalerweise
hätte ich ihn ja gar nicht gelesen, aber er klappte auf, und ich sah das Wort
›Schwuchtel‹. Also habe ich genauer hingeschaut. Da stand nur ein Satz: ›Warum
stirbst du nicht an Aids, Schwuchtel?‹«
Rae
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