Wenn alle anderen schlafen
»Gehst du mit, einen Happen essen?«
»Oh, klar, ein paar Minuten
noch. Sagt dir das hier irgendwas?«
Er musterte die Karte mit
zusammengekniffenen Augen, schüttelte den Kopf. »Viele unserer
Sicherheitssysteme arbeiten mit Schließkarten, auch unser eigenes hier im Büro.
Wir wechseln sie wöchentlich, stellen sie selbst im Kopierraum her. Aber so
sieht keine unserer Karten aus.«
»Was ich dich noch fragen
wollte: Gehört Vintage Lofts auch zu euren Kunden?«
»Klar. Der Chef der
Baugesellschaft ist in meinem Golfclub.«
»Und D’Silva war die zuständige
Technikerin?«
»Zusammen mit anderen, ja.
Warum?«
»Nur so eine Vermutung, nach
dem, was ich von ihr weiß.«
Mitch gab sich damit zufrieden
und erklärte, er erwarte mich in zehn Minuten unten. Der Mann mochte ja in
seinem Job gut sein, aber bei seinem mangelnden Drang, den Dingen auf den Grund
zu gehen, würde er es als Privatdetektiv nie zu etwas bringen.
Das graue Holzschindelhaus an
der Mariposa Street in Potrero Hill war in schlechtem Zustand, der Anstrich wie
Haut, die sich nach einem Sonnenbrand schält. Die Fenster beider Stockwerke
erschienen mir wie dunkle Augen, die vorwurfsvoll in den Regen starrten. Ein
Zu-verkaufen-Schild, das schief über dem Erdgeschoß-Erkerfenster hing,
vervollkommnete das triste Bild. Das spanische Wort mariposa heißt
Schmetterling, aber falls hier je ein solcher geweilt haben sollte, war er
bestimmt längst in gastlichere Gefilde umgezogen.
Gleich nach der Mittagspause
war ich zu der Adresse gefahren, die Lee D’Silva auf ihrer Bewerbung angegeben
hatte. Schon der erste Augenschein hatte mich davon überzeugt, daß in keiner
der beiden Wohnungen jemand zu Hause war, aber ich hatte beschlossen, die
Schlüssel aus dem Hinterlassenschaftenkarton jetzt noch nicht zu benutzen. Ich
war vielmehr zum Pier zurückgefahren und hatte Mick darauf angesetzt, Marke und
Kennzeichen ihres Wagens sowie nähere Details über das Haus herauszufinden.
Viktorianischer Altbau, zwei
Wohneinheiten, Bayblick vom Obergeschoß, Dachgeschoßausbau möglich. Mieter: Misty
Tyree (EG), Lee D’Silva (OG). Monatliche Mieteinnahmen: 1000 Dollar (EG); 1300
Dollar (OG). Die für D’Silva eingetragene Telefonnummer entsprach der auf ihrer
Bewerbung. Laut Beschreibung des Maklers handelte es sich um ein Objekt mit
»zwei bezaubernden Wohnungen sowie intimem, sonnigem Vorgarten«.
Jetzt stand ich kopfschüttelnd
vor eben diesem Objekt. Der Vorgarten war nur eine terrassierte Böschung,
überwuchert von Unkraut, das auch schon die Treppe und die winzige
Eingangsveranda einzunehmen drohte. Als ich zur Tür hinaufging, griffen
Brombeerranken hungrig nach meinen Fußgelenken. Die Holzstufen waren verrottet,
die Tür verzogen. Und dafür wollten sie über eine halbe Million Dollar?
Ich klingelte bei der unteren
Wohnung, was jedoch keine Reaktion zeitigte. Klingelte dann bei D’Silva,
wartete, klingelte noch zweimal. Dann schloß ich mit ihrem Schlüssel auf. Vor
mir führte eine steile, schmale Treppe nach oben. Die Treppenhauswände waren in
einem harten Orangeton gestrichen. Im Hinaufsteigen überkam mich das vertraute
Hier-wohnt-keiner-mehr-Gefühl.
Das Treppenhaus endete in einem
Flur, der sich zur Front- und Rückseite des Hauses hin verzweigte. Noch mehr
Orange, mit Zitronengelb abgesetzt. Ich ging in Richtung Frontseite und landete
in einem weißgestrichenen Wohnzimmer, dessen ganzes Mobiliar in einem
lachsfarbenen Sofa, schwarzen Metallstehlampen und einem Naturholz-Couchtisch
im Missionsstil bestand. Mitten auf dem Tisch stand eine Statuette: eine nackte
Frau auf einem Sockel, mit geöffnetem Brustkorb, so daß Rippen und Organe
sichtbar waren — Autopsie, das aus Clive Benjamins Wohnung entwendete
Kunstwerk.
»Beweisstück Nummer eins«,
sagte ich leise. Ein Beweisstück, ja, und eine Scheußlichkeit, die nur darauf
lauerte, einen in Alpträumen heimzusuchen.
Ich drehte eine kurze Runde
durch das Zimmer, folgte dann dem Flur zum nächsten Raum. Ein Schlafzimmer mit
nackten Tannenholzdielen und gleichfalls weißen Wänden. Über das niedrige
Sockelbett war eine Daunensteppdecke gebreitet, und in einer Zimmerecke, unter
einem Oberlicht, stand eine alte Badewanne mit Klauenfüßen und einem dicken
Webvorleger. Als ich hinging, sah ich, daß es eine auf alt getrimmte
Jacuzziwanne war. Ganz schön teure Investition für jemanden mit dem Gehalt
einer Sicherheitstechnikerin. Ich ging zu einem Tannenholzschrank und öffnete
ihn, und
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