Wenn auch nur fuer einen Tag
schließlich auch für mich ein neuer Lebensabschnitt beginnen.
»Hoffentlich hat Hamburg auch etwas zu bieten«, sagte ich leicht niedergeschlagen. »Wettertechnisch hast du auf alle Fälle die besseren Karten gezogen. Weißt du, wie oft es in Hamburg regnet?«
»Ach komm, das Studentenleben macht überall und sogar bei dem größten Pisswetter Spaß. Und mit Carla als Mitbewohnerin sowieso. Ich bin echt froh, dass Sabine und Thomas euch die Miete für die Wohnung spendieren.«
Ich nickte. »Du hast recht, ich freu mich aufs Studium und vor allem auf die Mädels-WG mit Carla.«
»Wahrscheinlich werdet ihr euch vor Männerbesuch kaum retten können. Hm, wenn ich genauer darüber nachdenke: Vielleicht sollte ich mir doch besser einen Job in Hamburg suchen, damit wenigstens irgendjemand ein wachsames Auge auf euch alberne Hühner hat.«
»Untersteh dich«, protestierte ich lachend. »Und bitte keine spontanen Überraschungs- oder Kontrollbesuche. Wir wollen ja nicht, dass es peinlich wird, oder?«
Mein Bruder stand auf. »Komm her, Kleine.« Er zog mich an sich, um mich ganz fest zu drücken. Ich musste mich zusammenreißen, um meine aufsteigenden Tränen herunterzuschlucken. Jetzt sei nicht so zimperlich, schalt ich mich selbst. Es ist schließlich kein Abschied für immer.
»So, wird höchste Zeit, dass ich zum Flughafen komme!« Flo machte sich von mir los. »Pass auf dich auf, Kleine, okay? Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
Danach telefonierten wir jede Woche. Flo erzählte mir einfach alles, sodass ich das Gefühl hatte, weiterhin an seinem Leben teilzuhaben. Ich kaufte mir sogar einen Stadtplan von Rom, um mitzuverfolgen, wo er sich herumtrieb, und machte ein rotes Kreuzchen in der Via Vicenza, wo sich das Haus befand, in welchem er eine kleine Wohnung gemietet hatte. Flo schwärmte von seiner Arbeit als freier Mitarbeiter in der Presseabteilung der deutschen Botschaft, von den Leuten, die er kennenlernte, von seinen Streifzügen durch die Stadt. Einmal verabredeten wir uns am frühen Abend zu einem Glas Rotwein. Carla und ich saßen vor meinem Laptop und Flo stellte sich vor die Webcam am Platz vorm Pantheon und prostete uns zu. Es lief alles super und im Dezember stand er tatsächlich kurz davor, eine Festanstellung zu ergattern. Als an jenem Abend auf ihn geschossen wurde, kam er gerade vom Abendessen mit seinem Chef. Wie kann das Leben nur so grausam sein? Ausgerechnet an dem Punkt, an dem man glaubt, alles wäre perfekt?
Seit Flos Tod hänge ich mich noch mehr in mein Italienischstudium als zuvor. Irgendwie habe ich dadurch das Gefühl, ihm näher zu sein. Aber ob ich wirklich mein Auslandssemester in Rom verbringe, weiß ich noch nicht. Ich habe Angst davor, eines Tages, ohne es zu wissen, jene Gasse hinunterzulaufen, in der er erschossen wurde. Irgendwo dort auf den Pflastersteinen klebt noch sein Blut.
Ich schrecke zusammen, als Lukas’ Arm neben mir zuckt, und kurz befürchte ich, dass er wieder ein Stück von mir wegrücken könnte.
Bitte, bitte, beweg dich nicht, flehe ich stumm.
Ich will nicht, dass unsere kleine Verbindung auseinanderreißt. Aber zum Glück lässt Lukas seinen Arm dort, wo er ist. Vorsichtig schiele ich zu ihm. Er scheint immer noch voll und ganz bei der Sache zu sein, so konzentriert, wie er den Film verfolgt. Ich frage mich, ob er überhaupt genug vom Inhalt versteht, aber jetzt kommt die berühmte Badeszene im Trevi-Brunnen, und dafür braucht niemand besondere Italienischkenntnisse. Ich hoffe nur, Lukas stellt sich nicht vor, dass sich Tamara anstatt Anita Ekberg im Brunnenwasser badet und rekelt, das lange triefende Haar in den Nacken wirft, in ihrem nassen, eng anliegenden Kleid noch mehr zeigt als sonst und –
Mein Herz vergisst weiterzuschlagen! Lukas hat plötzlich, blitzschnell, seine Hand auf meine geschoben. Wie erstarrt sitze ich gegen meine Lehne gepresst und fixiere weiter die Leinwand, aber natürlich bekomme ich rein gar nichts mehr mit. Jede einzelne Faser meines Körpers ist einzig und allein auf die Berührung unserer Hände konzentriert. Oh Gott, ich glaube, ich habe noch nie etwas so bewusst und intensiv gespürt wie Lukas’ Finger über meinen.
Mein Herz hat wieder zu schlagen begonnen. Doch jetzt rast es, beinahe so, als müsse es seine Aussetzer wieder einholen.
Eine Zeit lang sitze ich nur völlig regungslos da, unfähig, mich zu bewegen. Aber dann, nach einer Weile, lasse ich meine Hand langsam ein kleines bisschen nach oben
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