Wenn Blau im Schwarz ertrinkt (Teil 1)
und zwang sie geradeaus zu sehen, als die brennende Fackel in den Reisighaufen ringsherum ihrer Tochter gestoßen wurde und reales, heißes Feuer aufzüngelte.
Ihrer Schreie hallten durch die Luft und sprengten ihr das Herz aus der Brust. Tränen flossen wie Wasserfälle aus ihren grünen Augen und hüllten das Feuerinferno in weißlichen Dunst. Schwefel quoll zu einer Wolke heran, versetzt mit dem Duft verbrannten Stoffs, verbrannter Faser, verbrannten Fleisches.
Sie schloss die Augen und formte die Buchstaben in ihrem Geist zu Worten, um sie an die Eine zu richten, um sie um Hilfe zu bitten. Wissend, dass dies das Letzte war, was sie tun konnte. Wissend, dass dies das Letzte war, was sie hinterlassen konnte.
Sie sprach die Worte. Fühlte, wie sie zu mehr wurden, als bloßen Worten. Fühlte, wie sie an Umfang und Tiefe zunahmen. Fühlte die Macht, die sich verdichtete, zu einer geballten Masse zusammenschloss und sich schließlich in einer einzigen gewaltigen Explosion entlud, ein Beben von begleiteter Dunkelheit erzeugte und keinen Raum unberührt ließ.
NEUNZEHN
Gwen stürzte auf die Knie. Schwer keuchend und gehetzt sog sie nach Luft und tastete verwirrt und verstört ihren Körper ab. Noch immer steckte sie in dem schwarzen Kleid und dem blauen Mantel. Doch anders als zuvor, waren die Kleidungsstücke nun trocken und umhüllten angenehm warm ihren Körper.
Gänzlich desorientiert versuchte sie ihre Umgebung ins Auge zu fassen, als plötzlich eine kräftige weibliche Stimme an ihr Ohr drang und sie erschrocken zusammenzucken ließ. „Hab keine Angst. Du bist in Sicherheit.“
Gwen kippte nach hinten und wich argwöhnisch auf Händen und Füßen zurück.
Sicherheit
. Kaum, dass sie sich noch erinnern konnte, was dieses Wort tatsächlich bedeutete. „Wer … bist du …? Wo … bin ich …? Was … ist mit mir passiert …?“
Was gerade eben mit ihr passiert war, entzog sich ihrer Vorstellungskraft. Sie war diese rothaarige Frau gewesen. Die Frau, die zugesehen hatte, wie ihre Schwester und deren Tochter am Scheiterhaufen verbrannten. Die Frau, die selbst neben ihrer Tochter ein Ende durch das Feuer gefunden hatte. Sie war diese Frau gewesen und hatte all das gespürt, was sie gespürt hatte.
Die zu der Stimme gehörende Frau trat näher an sie heran. Sie war groß und schlank, trug silberne Sandalen und ein langes ärmelloses lila Kleid, das an eine Tunika erinnerte und in dessen Bund ein Dolch steckte. Ihr schwarzes Haar glänzte seidig und glitt ihr anmutig bis über die Taille. Auf dem Kopf trug sie ein silbernes Diadem, dessen Mitte von einer goldenen Mondsichel geschmückt wurde. Ebenso trug sie an beiden Händen breite Armreife, die durch das gleiche Mondsymbol geziert wurden. Ihre Augen waren schwarz, aber anders, als die von Merkas, von hellem Glanz und Lebendigkeit erfüllt.
Mit ein paar tiefen Atemzügen versuchte Gwen ihren Herzschlag zu beruhigen, dann stellte sie ihre Fragen erneut. „Wer bist du? Und wo bin ich? Was ist … passiert?“
Die Frau ging vor ihr in die Hocke und bedachte sie mit einem warmen Lächeln. „Hab keine Angst. Ich will dir nichts tun. Ich bin Hekate, und was du gerade erlebt hast, habe ich dich erleben lassen.“
Gwen starrte die eindrucksvolle Frau mit großen Augen an. Der Name rührte an etwas in ihrem Gedächtnis, doch sie konnte es nicht greifen. „Wie … was genau hast du mit mir gemacht? Ich bin durch einen merkwürdigen Wald gelaufen und plötzlich … war ich irgendwo anders … war ich … nicht mehr ich … Und jetzt … jetzt bin ich hier …“
Immer noch lächelte die Frau. „Du bist auch jetzt noch in diesem Wald – was deinen Körper angeht zumindest. Dein Geist dagegen hat eine Reise gemacht. Eine Reise in die Vergangenheit, zurück zum Anfang.“
Obwohl sie die Antwort bereits ahnte, fragte sie: „Was für ein Anfang?“
„Der Anfang der Sensaten. Was du gerade erlebt hast, war die Stunde ihrer Geburt. Die Frau, in deren Leben du dich gerade wiedergefunden hast, war ihre Schöpferin. Du weißt, wer diese Frau ist. Hab ich recht?“
Gwen rückte kurz mit dem Kopf in alle Seiten, konnte jedoch nicht mehr erkennen, als ein durchdringendes Weiß, das Boden, Höhe und Weite ausfüllte. „Ja, ich weiß, wer sie ist. Lilith. Sie hat den Zauber gesprochen, der die dunklen Kinder … die Sensaten geboren hat.“
Hekate nickte. „Weißt du, warum sie das getan hat? Warum sie diesen Zauber gesprochen hat? Was genau
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