Wenn das der Führer wüßte
sein mußte. Alle Straßen waren mit Flüchtenden verstopft, das Chaos hatte begonnen. Und die Sender wußten über nichts Wichtigeres zu berichten als über Gehaltsregulierungen, den Vormarsch in Tibet, der jetzt keine Katz mehr interessierte, oder über indoarisches Denken. Vormärsche! Blitzkrieg! Was für ein Wahnsinn! Diluviale Strategie im Regen der A-Bomben!
Höllriegl knirschte mit den Zähnen. In seiner Wut schaltete er so wild, daß der Wagen sich aufbäumte. Und plötzlich hieb er mit beiden Fäusten auf das Lenkrad ein. Axel sah ihn scheu von der Seite an. Die blauen Blitze aus des „Engels“ Augen brachten Höllriegl zur Besinnung …
Denn andrerseits wußte die Reichsführung, und das hieß: die Partei, was sie tat. Die Partei denkt für dich! Sie dachte, plante und lenkte das Geschick und die Geschichte des Abendlandes. Sie tat es für jedermann, für jeden Volksgenossen. Köpfler sorgte sich auch für ihn, Albin Totila Höllriegl. So wie einst der Führer und Reichsgründer sich für ihn und alle gesorgt hatte. Und plötzlich fielen Höllriegl jene Strophen ein (seine Lippen formten sie wie ein Gebet), die ihm, dem namenlosen ostmärkischen Hitlerjungen, in jener fernen illegalen Zeit so oft durch Herz und Hirn gegangen waren:
Mein Führer, sieh, wir wissen um die Stunden,
in denen du hart an der Bürde trägst –
in denen du auf unsre tiefen Wunden
die liebevollen Vaterhände legst
und noch nicht weißt: wie wirst du uns gesunden!
In vielen Nächten mag dies so geschehn:
Wir schlafen, und du wachst mit bangen Sorgen,
denn viele Nächte werden dir vergehn,
die du durchgrübeln mußt, um dann am Morgen
mit klaren Augen in das Licht zu sehn.
Mein Führer, sieh, wir kennen das Entsagen,
das du als Mensch für uns zum Opfer bringst,
die Last der Einsamkeit mußt du ertragen,
damit du unsres Volkes Schicksal zwingst
in trüben und in freudevollen Tagen.
Darum ist unsre Liebe auch so groß,
darum bist du der Anfang und das Ende –
Wir glauben dir, treu und bedingungslos,
und unser Werk des Geistes und der Hände
ist die Gestaltung unsres Dankes bloß.
Wie damals war es auch jetzt! Der Führer hatte dieses heilige deutsche Reich geschaffen – und der Führer lebte in der Partei und allen ihren Gliederungen fort. Er war der Anfang und das Ende. Er war unsterblich, wie auch die Partei unsterblich war. Was hatte Anselma gesagt? Der Führer war zum mystischen Leib des deutschen Volkes geworden. Adolf Hitlers große Seele lebte in jedem einzelnen Volksgenossen weiter. Auch in ihm! In seiner Brust trug er des Führers ewiges Erbe. Wie hatte er nur an der Partei irre werden können! Die Partei denkt für dich, die Partei denkt für dich – das konnte man sich nicht oft genug einprägen! Wenn sie – SIE! – die Bombentreffer verschwieg, wohlweislich verschwieg, dann wußte sie haarscharf und bis zur letzten Konsequenz, warum sie das tat. „Wir glauben dir, treu und bedingungslos!“ Das wars! Der Kleine, Kleinmütige, der die großen Dinge und geschichtlichen Zusammenhänge nicht sah, nicht sehen konnte und durfte, der mochte in seiner Schwäche zweifeln und verzweifeln. Doch das war natürlich dumm, war verbrecherisch – einfach sinnlos! Herrgott, einen Sinn mußte ja das Leben haben, einen Sinn wenigstens! Und dieser Sinn hieß: Deutschland!
Sie waren aus dem Wald herausgekommen und hatten die Straße vor sich, auf der im Nebel und bleichen Schein der Lichtkegel eine endlose Kolonne von Autos dahinschlich. Immerhin fuhren die Wagen hier nicht so dicht aneinander, es gab Lücken, und es war nicht schwierig, sich in diese zähflüssige Fahrt einzuordnen. Schicketanz hatte recht gehabt: der Karrenweg war nicht nur ein Abschneider gewesen, er hatte anscheinend auch um das Ärgste herumgeführt.
Die Augen tränten nicht mehr so sehr, nur ein beizendes Brennen, eine sandige Trockenheit waren zurückgeblieben. Auch die Sehstörungen hatten nachgelassen – die Dunkelheit tat den Augen wohl. Doch dieses lähmende Gefühl der Zerschlagenheit, der sacht pochende Schmerz in den Gelenken!
Wohin um Himmels willen wollten die Flüchtlinge? Gab es noch irgendwo Schutz vor den Bomben? Zeitweilig ließ Höllriegl den nächstbesten Wagen herankommen und fragte im Schrittfahren, wohin die Reise gehe. Die Auskunft war stets die gleiche: irgendwohin nach dem deutschen Osten, in die weiten, wenig besiedelten Gebiete, nach Pomerellen, ins Kulmerland, in den Warthegau, die Masuren,
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