Wenn das der Führer wüßte
Behagen die ländlich würzige Luft ein. Keine Seele weit und breit – wie friedlich war die Welt! Nur hoch oben das leise Dröhnen. Er stellte sich am Straßenrand hin und begann eine Tiefatmung, wie die Naturheilkunde sie vorschreibt. Schon nach wenigen Minuten fühlte er sich entspannt und gekräftigt. In seiner Konzentrationsübung hatte er nicht gemerkt, daß das Dröhnen stärker geworden war und sich nun förmlich auf ihn herabstürzte. Aufblickend gewahrte er über sich ein Jagdflugzeug, das wie einer jener vorsintflutlichen Stukas steil in die Tiefe, also direkt auf ihn zuschoß, knapp über dem Boden hochschnellte und dann beinah senkrecht nach oben stieg, alle Manöver mit blitzartiger Präzision ausführend. Als Amtswalter typenbewandert, erkannte er die neue Nih-156-D deutschamerikanischer Machart, den „fortgeschrittensten Mehrzweck-Jäger mit Allwetter-Zuverlässigkeit“ – Höllriegl erinnerte sich genau an die betreffende Stelle in der „Wehrkunde für den Deutschen Amtswalter“ –, der sowohl im Luftkampf wie für Luft-Boden-Einsatz, für Tiefangriff und Aufklärung gleicherweise brillant verwendet werden konnte. Als die Maschine, aus allen Düsen und Poren brüllend und urplötzlich zur Mücke einschrumpfend, wie ein wilder, stinkender Spuk verstoben war, formten noch Höllriegls Lippen mechanisch den auswendig gelernten Satz: „Dieses höchst zuverlässige Flugzeug, das jederzeit und nahezu überall startbereit ist, hat alle auf Grund vieler Windkanalversuche vorausberechneten Leistungen erfüllt und übertroffen. Die mit Laser bestückte Nih(il)-156-D(eath) ist die wirksamste Angriffswaffe in der Hand der Neuen Weltordnung …“ Er lächelte glücklich; die kleine Episode hatte ihn gestärkt und mit neuer Zuversicht erfüllt.
Mit Schwung eilte er die breiten Steinfliesen hinan, die zur untersten Terrasse der Totenburg führten. Aus der Nähe besehen, machten die Anlagen einen verrotteten Eindruck. Der Weiher war nichts als ein überwachsener Tümpel. Überall stand dürr gewordenes Distelzeug, und mannshohe, schmutzigbraune Klettenwälder umwucherten die rissigen Säulen und Mauern. Der Beton zeigte da und dort das Stahlskelett. Die steinernen Bänke, die zu Besinnlichkeit und Andacht einluden, waren zum Teil eingestürzt und nicht wieder hergestellt worden. Auf der Stirnseite der obersten Terrassenmauer, unter dem rostigen Aar, fand Höllriegl die verwitterte Inschrift: MÖGEN JAHRTAUSENDE VERGEHEN / SO WIRD MAN NIE VON HELDENTUM REDEN UND SAGEN DÜRFEN / OHNE DER DEUTSCHEN HEERE ZU GEDENKEN / DANN WIRD AUS DEM SCHLEIER DER VERGANGENHEIT HERAUS DIE EISERNE FRONT DES GRAUEN STAHLHELMS SICHTBAR WERDEN / NICHT WANKEND UND NICHT WEICHEND / EIN MAHNMAL DER UNSTERBLICHKEIT / SOLANGE ABER DEUTSCHE LEBEN / WERDEN SIE BEDENKEN / DASZ DIES EINST SÖHNE IHRES VOLKES WAREN. ADOLF HITLER / MEIN KAMPF. Der Name des Führers war mit frischer schwarzer Farbe überschmiert. Jemand hatte mittels einer Schablone HEIL DEM DEUTSCHEN WW hingepinselt – darunter den offenen Wolfsrachen.
Die Büberei stieß ihn ab. Augenblicklich waren Stolz und Freude dahin. Von dunklen Ahnungen bedrängt – auch die Sonne hatte sich versteckt –, umwanderte er sinnend das Denkmal. Wie man nun sehen konnte, setzte sich der aufgeschüttete Hügel auf der der Straße abgekehrten Seite in einer natürlichen, bewaldeten Bodenschwelle fort.
Er ließ sich nieder, um ein wenig zu verschnaufen, legte sich auf den Rücken, wobei er mit den Händen seinen Hinterkopf massierte. Wieder dieser ekelhafte nervöse Nackenschmerz, diese Steifheit in den Halswirbeln! Höllriegl war sich bewußt, daß irgendwas Gewaltiges, Unberechenbares im deutschen Volk geschah, in den Tiefen und Abertiefen der Volksseele, das zu neuem Aufbruch drängte. Wie einst, wie 1933! Zwietracht – in diesem weltgeschichtlichen Augenblick!? Es waren Tage einer furchtbaren Entscheidung, drinnen und draußen. Auch Tage der Entscheidung für ihn, für jeden einzelnen Volksgenossen. Wohin gehörte er, wohin wollte er gehören? Zur alten Garde, die sich um den toten Führer und sein Erbe scharte, oder zu den Neuen? Ich hoffe, Sie werden nicht immer aufs falsche Pferd setzen, hatte Anselma gesagt. Sollte er, wie sie, mit den Werwölfen heulen?
Sich aufstützend, sah er, daß die Erde dort unten in der Senke lebendig geworden war. Eine graue Masse im grauen Wintergras bewegte sich langsam auf den Ort zu, wo er lag. Was war das nur? Eine Schweineherde? Man hätte es
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